Das Ballett in Berlin und Tschaikowskys „Dornröschen“ kennen sich seit 1949, als Tatjana Gsovsky es erstmals an der Deutschen Staatsoper inszenierte (die heute als Staatsoper Unter den Linden firmiert). Damit begann ein gutes Halbjahrhundert, in dem bis 2001 an den Opern der Stadt sage und schreibe acht verschiedene „Dornröschen“-Produktionen herauskamen.
Ließe man die leidvollen politischen Rahmenbedingungen der Zeit außer Acht, die Alliiertensektoren, die Mauer und den Eisernen Vorhang, die das Theaterleben und das Repertoire der Bühnen Berlins erst in Ost und West teilten und dann faktisch verdoppelten, könnte Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu als ein „Dornröschen“-Labor beschrieben werden. Drei weitere Versionen, von Lilo Gruber, Brigitte Thom und von Rudolf Nurejew, folgten zwischen 1967 und 1992 an der Staatsoper der Erstinszenierung Tatjana Gsovskys, und drei eigene Versionen, von Kenneth MacMillan, Peter Schaufuss und Youri Vámos, brachte die Deutsche Oper zwischen 1968 und 2001 heraus, außerdem die Komische Oper 1999 ein „Tanzstück“ von Jan Linkens zu Tschaikowskys Musik.
Geteilte „Dornröschen“-Hauptstadt
Im Durchschnitt alle zehn Jahre ein neues „Dornröschen“ an der Staatsoper und der Deutschen Oper: Angesichts dessen ist die Schlagzahl bemerkenswert, mit der sich das Staatsballett Berlin mit Tschaikowskys „Dornröschen“ befasst. 2004 gegründet, hervorgegangen aus den selbstständigen Tanzensembles der Staats-, der Deutschen und der Komischen Oper, hat das Staatsballett in seiner kurzen bisherigen Lebenszeit bereits drei Mal „Dornröschen“ herausgebraucht: 2005, 2015 und – geplant für 2020, doch aus den allseits bekannten Gründen verschoben – jetzt.
Drei „Dornröschen“ in 17 Jahren (gar nur 15, wenn man den ursprünglich geplanten Premierentermin der jüngsten Produktion berücksichtigt)? Keines davon als experimentelles Kleinformat angelegt – etwa für eine Tänzerin, zwei Akrobaten und drei Dramaturgen -, keine als Studioproduktion mit Funduskostümen und einem Fastnichts an Bühnenbild – sondern alle drei eine jeweils von Grund auf neue Tutti-Produktion für großes Ensemble, große Ausstattung, großes Orchester und was sonst noch alles groß gedacht und gemacht werden muss, wenn dieser Achttausender des Ballettrepertoires erklommen werden soll. Ob es in der Geschichte überhaupt je irgendwo ein Ensemble gab, das sich die Extravaganz dreier „Dornröschen“-Produktionen in so kurzer Zeit geleistet hat?
Notwendige Extravaganz
Zugestehen muss man dem Staatsballett Berlin: Der erneute Versuch, „Dornröschen“ wachzuküssen, war notwendig. Den ersten zwei Bemühungen gelang keine nachhaltige Erweckung der schlafenden Schönen. Vladimir Malakhovs Inszenierung von 2005 löste wenig von der Furore aus, die zu machen man ihr allzu vollmundig vorausgesagt hatte, und auch Nacho Duatos Version von 2015, mitgebracht aus St. Petersburg, wird wohl eine Randnotiz der Tanzgeschichte bleiben, nicht nur der Berliner.
Da stehen die Zeichen für das Staatsballett-„Dornröschen“ Nummer Drei erheblich besser. Es ist eine Berliner Fassung (einstudiert durch Pablo Aharonian) von Marcia Haydées Stuttgarter Überraschungserfolg von 1987. Von diesem Erfolg, von den Stuttgartern schon über zweihundert Mal vor eigenem Publikum und etliche Male auf Gastspielen gezeigt, von Haydée in Berlin bereits zum achten Mal nachinszeniert (nach Ankara, Santiago de Chile, Antwerpen, Perth, Stockholm, Seoul und Prag; und die neunte Nachinszenierung seit der Stuttgarter Premiere folgt bereits im Juni 2022 in Montréal) – von diesem Erfolg will nun offenbar auch Berlin profitieren. Und dieser Plan dürfte aufgehen.
Zwar hat das Staatsballett Berlin mit diesem „Dornröschen“ kein wirklich „eigenes“ gewonnen, aber einen großen, vom Premierenpublikum heftig bejubelten Erfolg vorzuweisen – und eine Inszenierung, deren Vorzüge für langjährige Repertoire-Tauglichkeit sprechen. Denn obschon in Haydées Inszenierung des Prinzen Kuss der Musik hinterherhinkt, wirkt er: Das neue Berliner „Dornröschen“ schlafwandelt nicht mehr nur, sondern ist quicklebendig – sogar schon „vor“ dem Kuss. Und es hat – ein Markenzeichen der Produktion – eine nur hier zu sehende Ausstattung (wie Stuttgart mit Jürgen Roses und weiland Ankara mit Jean-Marc Puissants Dekor), die in beeindruckender Weise gelungen ist.
Stuttgarter Vorbild und Berliner Augenweide
Jordi Roigs Bühnenarchitektur folgt in ihren Grundzügen zwar dem 1987er Vorbild Jürgen Roses mit symmetrisch angelegten Arkadenbögen im Hintergrund und an den Seiten, doch Roig spart nicht mit eigenen Akzenten, schwelgt in Goldtönen und samtenem Dunkelrot – und offeriert dazu ein Wunderwerk an Kostümen (rund 300 sollen es sein), dessen Opulenz, Eleganz, Charme und Geschmack in Gestaltung, Farben und Details eine Augenweide ist, das anfangs an ein Ballett nach Watteaus „Einschiffung nach Kythera“ denken lässt, auch an alte Porzellanfiguren mindestens (wir sind in Berlin!) in KPM-Qualität, das den Hofstaat in ein Kaleidoskop erdiger Farben und die Jagd-Gesellschaft in edles Dunkelgrün kleidet und schließlich im Hochzeitsbild aus dem Vollen der Formen, Farben und hübschen Einfälle schöpft, um das Publikum geradezu schamlos zu überwältigen – mit berückendem Erfolg.
Die choreographischen und inszenatorischen Qualitäten des Haydée-„Dornröschens“ für Berlin sind die eines jeden Haydée-„Dornröschens“. Haydée, gerade 85 Jahre alt geworden, experimentiert nicht mit dem überlieferten Material und Stoff des Werkes, auch nicht mit ihrem eigenen Zugriff darauf, sondern bleibt ihrer in Stuttgart einst wider Erwarten so überaus gelungenen Version treu.
Carabosse, das personifizierte Unheil mit Kabuki-weißer Maske, von der Pantomime- zur (höchst athletischen) Tanzrolle aufgewertet, ist die Zeremonienmeisterin der Handlung, die mit ihrem riesigen schwarzen Umhang immer wieder einen Pesthauch dunkler Ahnungen über die bunte Märchenwelt legt – und der selbst noch nach dem Happy End das Schlussbild gehört. Carabosse und der Fliederfee widmet Haydée zusätzliche Szenen (und macht das hier wie an anderen Stellen so geschickt und theaterwirksam, dass selbst jene Passagen, in denen sie gegen das Programm der Musik inszeniert, so selbstverständlich erscheinen, als hätten Petipa und Tschaikowsky es nie anders entworfen). Gut und Böse kämpfen in diesen Szenen jenseits Petipa’scher Vornehmheit in geradezu Cranko-dramatischer Manier miteinander.
Belebt und beseelt
Haydée belebt und beseelt das „Dornröschen“-Personal bis in die Nebenfiguren der Statisterie hinein mit feiner Personenzeichnung und feinsinniger Ironie. Der Hofstaaat à la Haydée ist ein (freilich wohlorganisiertes) Wimmelbild menschlicher Eigenschaften und Eigenheiten. Die scharwenzelnd um Auroras Gunst werbenden Prinzen haben hier nicht nur mehr als „Dornröschen“-üblich zu tanzen, sondern besitzen überdies individuelle Persönlichkeit, von Haydée leichthändig und mit einem Augenzwinkern skizziert. Und Catalabutte, der in einer Zwischenszene den nur mit den Schultern vortanzenden Tanzmeister gibt, ist nur ein kleines köstliches vieler weiterer Details, durch die Haydée gelingt, was wahrlich nicht alle „Dornröschen“-Inszenierungen für sich reklamieren können: Dass die über drei Stunden der Aufführung zu drei überaus kurzweiligen Stunden werden.
In einer ersten Vorstellungsserie bis Anfang Juli plant das Staatsballett mit fünf alternierenden Besetzungen der zentralen Partien. In den ersten zwei tanzten Polina Semionova und Iana Salenko die Aurora und gaben, ihrem Bühnennaturell entsprechend, der Figur der schlafenden Schönen mal lyrischere, mal technisch brillantere Züge. Die Fliederfeen von Elisa Carrillo Cabrera und Aurora (sic!) Dickie verströmten hier mehr mütterliche Geborgenheit, um das Unheil in Schranken zu halten, dort mehr von der technisch-formalen Exaktheit, mit der Petipa/Haydée das Böse zu bannen trachten. Carabosse ist bei Dinu Tamazlacaru buchstäblich ein Spring- und Drehteufel der tanzenden und gestikulierenden Drohung und Bedrohung, und ist bei Arshak Ghalumyan zurückgenommener, beinahe schon verinnerlicht gestaltet, viriler auch und näher an der Urinterpretation Richard Craguns.
Und die ersten zwei Prinzen Désiré? Mit der Premierenbesetzung der Aurora durch Polina Semionova, die einen hochgewachsenen Partner benötigt, fiel der Premieren-Desiré an den jungen Franzosen und Demi-Solisten Alexandre Cagnat, erst die zweite Besetzung, an der Seite Iana Salenkos, an den Ersten Solisten Daniil Simkin. Sie bereicherten das Tanz-Fest, das Haydées „Dornröschen“ dem Publikum bereitet, um sehr individuelle Höhepunkte.
Tanz-Fest der Désirés
Daniil Simkin zündet ein Feuerwerk hinreißend exakter, rasend schneller Drehungen, weit ausholender, scheinbar müheloser Manegen und hoher Sprünge. Ein reifer Ausnahmetänzer par excellence, sieht man seinem Auftritt mit sich steigernder Lust die Erfahrung an, die er in den bisher 16 Jahren seiner Karriere in den großen Rollen des klassischen Repertoires in Wien und New York und Berlin und auf zahlreichen Gastspielbühnen in aller Welt gesammelt hat, auch den Instinkt für die Zückerchen, nach denen das Publikum lechzt – und das Wissen darum, diese Zückerchen lässig und wie selbstverständlich vorführen zu können.
Ganz anders Alexandre Cagnat, der nach vier Jahren in San Francisco 2020 in Berlin sein zweites Engagement antrat. Hier hat er als Lenski in Crankos „Onegin“ und im „Diamonds“-Pas de deux der „Jewels“ von George Balanchine auf sich aufmerksam gemacht – und besticht auch als Désiré weniger allein durch technische Brillanz (die er freilich besitzt) als durch die Gesamtheit seiner Tänzerpersönlichkeit aus Technik, Linie, Haltung, Eleganz und (im schönsten Sinne) Allüre. Ein Prinzentänzer durch und durch, mit feinen, spitzen Gesichtszügen gesegnet, als wären sie einer Jungmännerzeichnung Jean Cocteaus entlehnt, füllt er die Bühne und zieht die Blicke auf sich, sobald er sie betritt, ist ein aufmerksamer, sicherer Partner (als der er mit der weitaus erfahreneren Polina Semionova aufs Schönste harmoniert) und unterscheidet sich von allen männlichen Kollegen des Berliner Ensembles durch Art und Abschluss seiner Präparationen, bei denen die vorgestreckte Hand fast schon am Ende der Bewegung eine kleine, abgesetzte Extra-Hebung und der Kopf, gleichzeitig, ein kleines Noch-ein-wenig-weiter-in-den-Nacken-Legen ausführt, die choreographisch völlig unbedeutend sind, doch in ihrer schlichten Eleganz den Blick fesseln und leiten wie die Lichtpunkte in den Gemälden großer, alter Meister.
Kraftanstrengung und Leistungsnachweis
Nicht ohne Stolz hat das Staatsballett darauf hingewiesen, dass in diesem „Dornröschen“ allabendlich 177 Rollen zu besetzen seien. Dass es sie – mit Hilfe der Statisterie der Deutschen Oper sowie Schülerinnen und Schülern der Staatlichen Ballettschule Berlin in den Kinderrollen – nahezu ausnahmslos aus den eigenen Reihen zu besetzen vermag (der Besetzungszettel nennt lediglich drei Gäste im Corps) und mit 15 Solistinnen und Solisten für die alternierenden Besetzungen aufwarten kann, ist ein beeindruckender Leistungsnachweis. Und eine an jedem Spieltag aufs Neue zu bestehende Kraftanstrengung. Dass diese auf unserer Seite des Vorhangs zu einem leichtfüßigen, schönheitstrunkenen Fest für Auge und – dank des Orchesters der Deutschen Oper Berlin unter Ido Arad – Ohr wird: Nicht nur, aber vor allen anderen Marcia Haydée sei’s gedankt!
Staatsballett Berlin: „Dornröschen“, von Marcia Haydée nach Marius Petipa. Premiere am 13. Mai 2022 in der Deutschen Oper Berlin. Weitere Vorstellungen: 18., 19., 28. Mai, 3., 6., 10., 24., 28. Juni, 1., 6. Juli.