Das zweite Wochenende des dreiteiligen TQW-Mini-Festivals „Rakete“. Aus Einflüssen von drei Choreografen kreierte Lena Schattenberg ihr Erstlingswerk „The Many Piece“. Eine tänzerische Offenbarung. Ihr „Spaziergang bei Nacht“ führt die Halb-Koreanerin Susanne Songi Griem und den Musiker Pete Prison IV auf improvisierten Pfaden durch Aspekte ihres Selbst.
Lena Schattenberg: „The Many Piece“
Aus drei mach' ich (m)ein erstes eigenes Stück. Könnte sich die seit 2020 in Wien lebende Tänzerin und Choreografin Lena Schattenberg gedacht haben. Sie sitzt schon auf der Bühne. Ein Licht aus der Ecke beleuchtet den Stoff, aus dem dieses Erstlingswerk gearbeitet ist. Über den Boden verteilt liegen textile Fragmente unterschiedlichster Farben, Formen, Größen und Texturen. Im Materiellen zeigt sich bereits, was sie im Tanz tun wird. Von den Choreografen Frédéric Gies, Philipp Gehmacher und Samuel Feldhandler leiht sie sich Material, dreht es durch den Fleischwolf ihres eigenen choreografischen Verstandes, zerreibt es zu Partikeln und setzt es neu zusammen zu einem halbstündigen Tanz.
Sie wischt in der Stille mit den Händen über den Boden, fast schwebend. Ein Rabe kräht in den elektronischen Sound (Özgür Sevinç), der zwischendrin auch wieder mal verstummt. Das Licht von Emese Csornai gleitet durch Farben und Quellen. Der Schultergürtel wippt, eine Hand kreist um die andere. Der Arm gestreckt, die Hände entspannt. Sie streichelt sich die Wangen, bald den Arm, pendelt zwischen Formalismus und ganz weicher Geste.
Von der Traverse hängt eine Decke, unter die sie sich, zögernd löste sie das Tuch vom Band, verkriecht. Lange liegt sie dort, unsichtbar für uns. Man ahnt, dass sich was tun mag im Verborgenen. Ein Reifeprozess. Dann ein Aufbruch. Sie erscheint, zieht sich um, rosa ist der Hosenrock, rosa dann das Oberteil. Als sie laut zählt, als ob es einen Rhythmus gäbe, folgt ihr paralleler Tanz einer anderen, unhörbaren Metrik. Sie singt etwas wie ein Liebeslied. Wem allerdings ihre Liebe gehört, bleibt ungewiss. Dem Tanz jedoch ganz sicher. „Shame, shame ...“
Lena Schattenberg, die 2015 ihr Theatertanz-Studium in Amsterdam abschloss und seitdem freiberuflich tätig ist, arbeitete unter anderem mit Rosas, der Kompanie der Anne Teresa de Kersmaeker, mit Christoph Marthaler und Samuel Feldhandler, mit dem sie eine eigene Kompanie gründete, zusammen.
Das Kreisen, eine in ihrem Stück mehrfach eingesetzte Geste, ist wie das Kreisen des Bewegungsmaterials um eine Mitte. Das „geliehene“ Material assimiliert sie vollständig und choreografiert damit einen Tanz, der authentischer kaum wirken könnte. Die Mitte ist die ihre, aus der heraus sie dieses beachtliche Stück auf die Bühne stellt. Mit Ausdruckskraft, ihre Händen allein können Geschichten erzählen, Ehrlichkeit, filigraner Gestik und anrührender Zartheit. Ein Erlebnis. Und eine Entdeckung.
Susanne Songi Griem und Pete Prison IV: „Spaziergang bei Nacht“
Die Lasten des Tages trägt sie als einen mit vielen bunten Tüchern behangenen Stuhl im und auf dem Kopf mit sich herum und fühlt sich damit in die Ecke, ins Abseits gestellt. Wie frisch gereinigt, im Bademantel, erscheint der Musiker und kniet sich auf das mit bunten Yogamatten belegte stufige Pult, den Kopf vornüber auf den Boden gelegt. Die Yoga-Haltung des Kindes. Im orangenen Licht der untergehenden Sonne schlägt er zwei Akkorde auf der Gitarre auf seinem Rücken und singt, während sie sich des Over-and-in-head-Gerümpels entledigt und zu ihm legt auf die obere Stufe. In der Haltung des Kindes.
Befreit nun von physischen und geistigen Verschmutzungen, sie zieht die blaue schützende Kapuzenjacke aus und steht im bunten Ringel-Pulli da, er wirft den Bademantel ab, kämmt sich die Haare und kleidet sich in eine sehr kurze weiße Jacke und schwarzen Slip, fast wie ein koreanischer Kampfsportler, sind sie wie Kinder. Unschuldig, offenherzig und vorurteilsfrei beginnen sie ihren gemeinsamen „Spaziergang bei Nacht“.
Stampfende Schritte synchronisieren sie, Susanne liegt allein entspannt auf dem Rücken, er dehnt sich im Sitzen, und sie sagt: „Wenn ich dich anschaue, schaust du nicht weg!“ Beide liegen bäuchlings nebeneinander, mit den Flöten in den Händen und am Mund. Aber sie spielen nicht. Sie erzählt von einer ähnlichen Szene in einer früheren Arbeit, wie die Reiskörner, die sie über die Bühne streute, sich verbanden. „Ganz toll.“ Sie streut Steinchen. Er spielt E-Piano, sie redet koreanisch und deutsch. Er singt eigene Texte, von ihrem Haar, dass so schwarz nicht ist wie er es sich vorstellte. Und von der Sonne. Sie tanzt auf einem Sockel, den das obere Ende einer Landschaftsbild-Yogamatte bedeckt, wie im Himmel. Die Versuche, ihre Bewegungen zu synchronisieren, bleiben Versuche. Sie macht sich schick in grauer Brustrüschen-Bluse, er kommt in rosa, spielt einen Walzer auf dem Akkordeon und tanzt dazu. Sie dann auch, getrennt. Sie tut es weiter, als er schon stoppte. Ihre Annäherung lässt ihn zurückweichen. Sich umkreisend, die Hand haltend, trägt sie ihn schleißlich auf dem Rücken. Die Schwerkraft spielt Akkordeon. Gemeinsam sinken sie, vielleicht erschöpft, zu Boden. Sie schaut uns an.
Das Bühnen-Bild wirkt improvisiert, eher auf dem Niveau der works in progress bei „Raw Matters“ oder bei „Handle with care“ (brut Wien), wo Susanne Songi Griem erste Arbeiten von sich präsentierte. Nicht nur das Bühnen-Bild. Die Bewegungen, das Spiel mit den Objekten, die Musik geben dieser Performance einen immer noch vorläufigen Charakter. Aber sympathisch allemal.
Und die Story? Wenn alle Katzen grau sind, wird das Leben bunt. Die Nacht befreit von den Korsetten des Tages. Sie ermöglicht es, Facetten von sich zu begegnen, sich zu erleben in unterschiedlichsten Kontexten. Kompakt und unaufdringlich erzählt diese halbe Stunde Nacht-Spaziergang viel von uns.
Lena Schattenberg mit „The Many Piece“ und Susanne Songi Griem mit „Spaziergang bei Nacht“ am 13. Mai 2022 im Tanzquartier Wien.