Bevor sich der Vorhang hebt, visualisiert auf diesem eine riesige Videoprojektion wogende Wellen aus einer Perspektive von unten: Beate Vollack hat das Ballett von Frederick Ashton und Werner Henze in ihrer choreografischen Interpretation mit geschärftem Blick unter die Oberfläche interpretiert; mit Fokus auf Palemon, angesiedelt in Zwischenwelten wie auch in der Gegenüberstellung von Gegensätzen.
Palemon (Christoph Schaller) ist ein Suchender, der sich mit den bislang gelebten Gegebenheiten nicht zufriedengeben will und derart in emotionale Zerrissenheit zwischen zwei Frauen sowie damit gleichzeitig zwischen zwei Welten gerät. Wo diese anfangen und enden, ist nicht immer definierbar, wird also unter anderem auch zu einem Gegen- und Ineinander von Realität und Traum, von Wahrheit und Trug.
Diese unzähligen Unsicher- und Unklarheiten präsentieren sich in der ephemeren Kunst des Tanzes nicht nur grundsätzlich gut, sondern werden in der hier gebotenen dynamischen Bilderflut flüssig ineinander greifender, dramaturgisch (Bernd Krispin) mitreißender Tanzszenen überzeugend (be-)greifbar: Christoph Schaller gelingt tänzerisch-darstellerisch variierte Emotionalität zwischen feinsinniger Hingabe wie Verlorenheit und kraftvollem Einsatz in einigen Sprüngen und insbesondere im mehrfachen kämpferischen Pas de deux mit dem Vater Undines, Paulio Sóvári, der gewohnt ausdrucksstark zu interpretieren versteht.
Undine wird, um ihre (dem Menschen) fremdartige Persönlichkeitsvielfalt erahnbar zu machen, von 6 Tänzerinnen verkörpert. Eine Idee Vollacks, die ganz wunderbar aufgeht: nicht nur, weil derart sich unzählig ergebende kleine Szenen unterschiedlichsten Bewegungs- und Tanzvokabulars in der Annäherung und im Miteinander zwischen Palemon und Undine auffächern lassen, sondern weil sie auch bei vielen der Pas de deux der Verliebten als Art emotionale Zusatzinformationen das innige oder aber auch dramatische Geschehen kommentierend ergänzen. Gleiches gilt auch für zahlreiche andere Szenen, in denen die gut aufeinander eingespielten, tänzerisch einfallsreich agierenden „Undinen“ nicht nur optisch zur homogen Bühnengestaltung beitragen, sondern immer auch weitere Charakter-Ebenen oder aber Sichtweisen auf die Situation andeuten.
Ann-Kathrin Adam hat als Beatrice, Palemons Verlobte, keine einfache Rolle, soll sie doch einen Gegenpart zur verführerischen Undine darstellen. Dies gelingt zum Teil etwas zu drastisch respektive im positiven Sinne zu wenig „ebenbürtig“, was nicht so sehr an der Tänzerin selbst als an den ihr gestellten Vorgaben liegen dürfte.
Insgesamt ist festzustellen, dass die Stärke dieser Choreografie in der szenischen Gesamtgestaltung, im Mit-, Neben- und Nacheinander des jeweilig agierenden Teils des corps de ballet, der einzelnen Gruppierungen und der SolistInnen zu verorten ist. Angefangen von der Herausforderung des ideenreich und flüssig-stimmig angelegten Hinein- in das und Hinaussteigens aus dem Swimmingpool, das das Bühnenbild (Jon Morrell) ebenso ungewöhnliche und überraschend, wie aber doch auch nachvollziehbar und beeindruckend beherrscht. Es ist der mannigfaltige Fluss des Geschehens, der trägt.
Unaufdringlich, ja mit Fingerspitzengefühl und doch überaus eindrucksvoll eingerahmt von großflächig eingesetzten Videoprojektionen (Philipp Fleischer) und sehr diskretem, aber punktgenauem Lichtdesign (Benedikt Zehm). Nicht unähnlich zu den wunderbaren Kostümen von Jon Morell, die markante Blickpunkte sind, oder aber das Gesamtbild ästhetisch abrunden, ohne zu behübschen oder zu verdecken.
Last, but not least: Immer wieder einmal ist die Musik beim Tanz nicht mehr als Verstärkung des Visuellen oder umgekehrt. In diesem Falle aber ist die eine Kunstform der anderen ein Mehrwert, ein bereichernder, ein vertiefender Kontrapunkt. Dies ist der Farbenpracht und Eigenwilligkeit der kompositorischen Ton-Welt des Werner Henze zu verdanken sowie der musikalischen Leitung Vassilis Christopoulos‘, der erstmals ein Ballett dirigierte; er tat es, weil ihn diese Partitur „reizte“, wie er sagte, und es ihm ein Anliegen war, dass es tatsächlich etwas Gemeinsames von Musik und Tanz werde …: die Übung ist gelungen, allen Beteiligten.
„Undine“, Ballett in 3 Akten von Beate Vollack, Premiere am 24. März 2022 im Opernhaus Graz. Weitere Vorstellungen am 2. April sowie am 7., 8., 11., 13., 18. und 20, Mai