Schnell musste man sein, um eine Karte für die zweimal nur 20 Plätze zu ergattern. Ganz oben unterm Nationaltheater-Dach. Tangoseligkeit im Ballettsaal. Mit weitem Abstand entlang von drei Wänden bestuhlt. Eine halbe Stunde musikalische und tänzerische Beredtsamkeit. Am 3. Juni 2020 um 18:30 und um 20 Uhr endlich wieder live mit „Tango between us“ von Maged Mohamed für zwei Tänzer des Bayerischen Staatsballetts.
Genau das macht Theater schließlich als Erlebnis aus: der Pianist mit Hut (Massimiliano Murrali), Violinistin (Susanne Gargerle), Cellistin (Anja Fabricius) und ein Tänzerpaar fast wieder zum Greifen nah und physisch mit dem Publikum am Aufführungsort zu einer Einheit auf Zeit verbunden. Krönung dieses sinnlich unheimlich berührenden, emotional prickelnden Happenings: prasselnder Applaus zum Schluss!
Tatsächlich beginnt die Inszenierung, deren rezipierender Teil der mundschutzmaskierte Zuschauer im neuen Corona-Lockerungs-Format der Bayerischen Staatsoper „Streifzüge am Mittwoch“ ist, schon 30 Minuten früher. Vor der Tageskasse, wo sich sonst vor Premieren Schlangen hinter den Ticketschaltern bildeten. Neugierig von Umstehenden beäugt, reiht sich nun jeder Einzelne in eine Open-Space-Choreografie ein. Darauf wartend, in Empfang genommen und auf sonst Gästen unzugänglichen Wegen zu seinem nummerierten Stuhl geleitet zu werden.
Ein künstlerisch mit heißer Nadel gestrickter, organisatorisch jedes frühere Maß übersteigender Aufwand. Dass er sich unbedingt lohnt, zeigt nicht nur das respektvolle Miteinander von Besuchern und mindestens gleichstark aufgestelltem Personal angesichts der ministerial auferlegten Umstandskrämerei. Dem Ganzen wohnt Signalkraft inne. Im Schlepptau hat das Parcour-Prozedere eine schöne Nebenwirkung. Der Aufstieg zum Olymp langvermisster Erwartung entreißt einen Schritt für Schritt dem Alltag. Entschleunigt, bis man – seine Sinne auf Maximalempfang hochgeschraubt – mit Blick auf Scheinwerfer, Flügel und die vierte, den Künstlern zugeteilte Spiegelwand, zum Innehalten kommt.
Melancholisch-ruhig beginnt Musik zu fließen. Der Auftakt zu Astor Piazzollas „Oblivion“/„Vergessen“ gehört noch allein dem Trio. Auch wenn die beiden Staatsballetttänzer Carollina Bastos und Ariel Merkuri den Raum dazu auf zwei voneinander entfernten Bahnen durchschreiten. Wie mit dem Lineal gezogen. Etwas später, in „Muerte del Angel“/„Tod des Engels“, lassen die Musiker ihre Instrumente erst satt und erinnerungsschwer, dann in wilder Entschlossenheit miteinander kommunizieren.
Wie vor einer Probe lockern die Tänzer Schultern und Fußgelenke. Gleichzeitig bauen sie über körperliche Distanz und Augenkontakt eine intensive, nicht mehr abreißende Gefühlsspannung zwischen sich auf. Zu „Tango between us“ inspirierten den Choreografen Maged Mohamed (Staatsballett-Tänzer bis 2014) Piazzollas „Vier Jahreszeiten aus Buenos Aires“ sowie die aktuelle Lage.
Klare Kreise, Linien und Diagonalen sind das Raster, auf dem sich sein Stück abspielt. Mit Behutsamkeit und forschen Attacken auf Spitze oder im Sprung. Bastos und Merkuri – auch privat ein Paar – umgreifen und umgarnen sich. Selbstgewiss und immer wieder von den Zehen bis zur Fingerkuppe akkurat verbogen wie Pfaue. Doch nichts berührt so sehr wie das Bild ihrer Finger, die eine gefühlte Ewigkeit brauchen, um sich endlich zu fassen.
Für den „Festen Samstag“ am 20. Juni ist eine Uraufführung von Staatsballett-Hauschoreograf Andrey Kaydanovskiy in Planung. Bis dahin wird in den Montagskonzerten weiter getanzt. Zwei Pas de deux aus dem zeitgenössischen Wayne McGregor-Ballettabend stehen in Folge 10 am 8. Juni auf dem Programm.