Die riesige Bühne des Ankersaal in der Wiener Brotfabrik ist fast wie eine Traumlandschaft. Weiß sind der Boden, das hohe Podest mit Treppe dahinter, zwei aufsteigende breite Bahnen. Sie scheinen in den Himmel zu führen. Und vorn rechts steht einsam eine schwarze E-Gitarre. Die letzte (Ur-) Aufführung im Rahmen des diesjährigen imagetanz-Festivals des brut Wien vor der verordneten Pandemie-Pause, nur noch vor geladenen Gästen präsentiert, war ein Genuss.
Aus dem Hinterhalt saust die in Finnland geborene Wahl-Wienerin Lau Lukkarila auf und über die Bühne. Mit dem Scooter. Und der schwarze lange Umhang weht, lässt Beine und Brüste unbedeckt. Sie beschreibt uns den ersten, durch Porno-Konsumtion forcierten Orgasmus. Als Kind noch, mir Schuldgefühlen danach. Die noch 25 Jahre bleiben. Und sie besteigt das Podest und führt sich zeremoniell geölt Analplug und Dildo ein. Videos von unter Wasser wogenden Polypen, einem toten, treibenden Fisch, abgegessenem Teller, Klaps auf den nackten Hintern, Schritten auf Eiswürfeln. Stöhnend schleicht sie vom Podest. Der Techno dröhnt wie die Endorphine in ihr. Ein Video zeigt Symbolisches: zwei Vögel, Mond, Wasserstrahl, funkensprühende Metallbearbeitung. Zu einem Song über Sex windet sie sich lang auf dem Boden. Ein erregtes Selbstgespräch, sie sucht relevante Leute und Dinge. Gefickt-Werden am offenen Fenster, Weinen danach. Videos mit elektronischem Sound, dann der riesige Mond und viel Theater-Nebel. Sie zieht sich um im Schatten. Grün-gelb fluoreszierend leuchtet ihr rüschiges Kleid, in dem sie tanzt im Mond, der senkrecht auf den Boden projiziert wird, den sie anbetet. La Luna, das Weibliche Prinzip, bestimmt Zyklus und Gezeiten, erhellt das Dunkel. Die Frau blüht kurz auf in der Nacht.
Im hellen Licht des Tages, verdeckt in der Ecke kauernd, redet sie von Vagina und Rektum als politischen Tools, vom Sinn für sich selbst, dem Geist der Dankbarkeit. Der Sound beißt in die Worte. Sie stöhnt, die Gitarre dröhnt. Ihr Gesang „Ich kann kaum gehen, sprechen, atmen, sehen“ und ihr Geschrei offenbaren neben ihren Qualen eine überraschend gute Sing-Stimme. Und da, wo vorher noch der Mond am Boden schien, spielt nun ein Zerrbild ihrer selbst mit seinem Original. Sie greift den Scooter und rollt ab. Ohne Sonnenbrille. Die Sound-Schleifen verhallen im Dunkel.
Das aus dem Chaos geborene Geschwisterpaar Nyx, die Göttin der Nacht, und Eros, der Gott der Liebe, hauchen „Nyxxx“ ihren mythologischen Atem ein. Ganz irdisch jedoch ist der Prozess, den Lau Lukkarila hier beschreibt. Aus der schuldbeladenen kindlichen wächst sie in eine narzisstische adulte Sexualität. Ihrer renitenten Egozentrik verleiht sie selbst einen temporären Charakter. Denn irgendwann möchte sie auch ohne Sonnenbrillen-Barrikade leben können.
Der künstlerische Prozess, erstmalig ausgestellt mit ihrem ersten eigenen Solo „Trouble“, im Tanzquartier im Mai 2019, mag auch ihr persönlicher sein. Von einem großen Entwicklungsschritt jedenfalls zeugt diese 70-minütige Arbeit, in der Lau Lukkarila mit ihrer Bühnenpräsenz beeindruckt. Das sorgfältig zusammengestellte Künstler-Kollektiv, das sie hier unterstützte, trug wesentlich zum Gelingen des Stückes bei. Der Sound von Manuel Riegler aka raschel, das Video-Design von Ju Aichinger und das Licht sind gewichtige Ko-Performer. Weiter im Team: Rana Farahani aka fauna, Costas Kekis, Marta Navaridas & Mzamo Nondlwana, Azra Husanović, Alex Franz Zehetbauer und Özlem Teker.
Mit dem Willen zu leben, doch allein. Körperliche Erregung als Drogen-Substitut. Mittels Erotik und Sex das Leben bejahen, doch auch den diffusen Schmerz am eigenen Ich betäuben, das wache Spüren seines Selbst strangulieren. Zerrissen zwischen Hedonismus und Selbstzweifel zeigt Lukkarila eine Frau auf dem Weg. Noch durch das Dunkel der Nacht geschützt, mit trotziger Autoerotik, dem stahlseiten-bespannten, lärmenden Phallus in ihrer Hand und kreischender Stimme ist „Nyxxx“ eine Kampfansage. An die Welt da draußen, mehr noch an die in ihr. Klar und dennoch ohne ausgrenzende Attitüde formuliert Lau Lukkarila feministische Selbstermächtigung.
Lau Lukkarila: „Nyxxx“, am 13. März im Rahmen des imagetanz-Festivals des brut Wien, im Ankersaal der Brotfabrik.