Welch inhaltliche, formale und emotionale Vielfalt in dem, was sich Cirque nouveau nennt, steckt oder jedenfalls stecken kann, das war – nach dem Programm der grandiosen Eröffnungspremiere (wir berichteten) – auch in den beiden folgenden, wiederum gänzlich unterschiedlichen Produktionen für nahezu jedermann und jeglichen kunst-kulturellen Hintergrund zu sehen, zu erleben und zu genießen.
Compagnia Baccalà
Mit wenig viel zu sagen, wortlos Geschichten zu erzählen, Großes im Kleinen zu präsentieren und „nebenbei“ mit akrobatischem Können zu faszinieren - verbrämt mit nur allzu menschlichen Wünschen und (scheinbaren) Pannen und getragen von humorvoll-spielerischer Leichtigkeit: Das ist die Compagnia Baccalà aus der Schweiz, die 2004 von der Schweizerin Camilla Pessi und dem Sizilianer Simone Fassari gegründet wurde und international seit 2010 erfolgreich und mit zahlreichen Preisen ausgestattet unterwegs ist. Mit ihrem ersten, abendfüllenden Stück „PSS PSS“ mehr als 600 Mal in über 50 Ländern.
Ihre nahezu einzigen Requisiten auf der vollkommen leeren Bühne sind Äpfel. Ein Apfel, der mit kindlich-einfachem Spaß das Publikum eingangs in ihre kleine große Welt verführt und der, weil es keinen mehr gibt, als „kein Apfel“ das Publikum ebenso einfach-selbstverständlich entlässt; die Stringenz dieses Rahmens zeugt bereits von der detailreichen Feinheit dieser Inszenierung, die das bewegungstechnische Können mit zahlreichen Ebenen zwischenmenschlicher Beziehung verbindet; leise gestisch und mimisch, was aber auch - ganz der wohlbekannten Realität entsprechend - manchmal laut sein darf und muss. Die wiederkehrende Verankerung des emotionalen Rahmens bilden Umarmungen, die, wie das in jeder guten Geschichte eben so ist, Verwandlungen unterliegen; sowie einer Entwicklung vom eingangs geübten Festhalten des Partners durch die Frau bis zum nicht mehr Loslassen der Partnerin durch den Mann am Ende. Was sie gemeinsam auf einem Trapez an Bewegungen der verrenktesten Art vollführen, mag als Machtkampf interpretiert werden; oder aber auch als Balgen Liebender – wie auch immer: dem Zuseher stockt mehrfach der Atem. Den Augen bleibt die Luft weg, wenn mit dem Diabolo geblödelt und letztlich zu dritt getanzt wird, wobei es, hier wie anderswo, nie um den Aspekt der Ästhetik per se geht, sondern vielmehr um das Auf und Ab, um das Vergnügliche und Verunsichernde, um das Überraschende im Leben.
Nur logisch, dass derlei Erfahrungen auch das Publikum so authentisch wie möglich machen soll: mittels einer Leiter, die für dieses sowohl als bedrohliches Objekt instrumentalisiert wird wie sie die Künstler über längere Zeit auch als Objekt enttäuschter Publikumserwartung (mit Hilfe der Leiter kann man doch zum hochhängenden Trapez gelangen…) einsetzten und die Leiter stattdessen zum Musikinstrument mutieren lassen.
Wenn Vergnügliches nur öfter derart einfallsreich und mit gar nicht einfallslosen Aussagen verbunden wäre…
Cirkus Younak
Die Kunst des lückenlosen Verbindens beherrscht - in gänzlich anderer Art – auch das aus der Slowakei kommende Kollektiv in ihrem Cirkus Younak, wenn sie von einem Volkshelden, einem Art slowakischen Robin Hood, episodenartig erzählen: mittels zeitgenössischem Zirkus, basierend hier auf Akrobatik am Boden, in der Luft und mit Rhönrad sowie Jonglage, Theater-Spiel, Volkstänzen, Livemusik und Märchenhaftem.
Wirbelwindartig fegt es da nahezu pausenlos über die Bühne; mit Temperament und Schwung, mit Spaß und Späßchen. Erheitert wird man mitgerissen in diesem lebensstrotzenden Strudel zwischen Komödie und Tragödie, in dem nahezu schalkhaft überschäumendes Zirkuskönnen eingestreut ist, wenn etwa ganz offen und stolz akrobatisches Können vorgeführt und bewundert werden will.
Ganz anders nahtlos integriert die leise Tonart des Tanzes im Aerial Hoop: ein feengleicher, ein geträumter, ein erträumter Tanz, der inhaltlich und inszenatorisch nichtsdestotrotz stimmig ist, da er durch ein zart umrahmendes männliches Sehnen (in Form von Seifenblasen und Blicken) auch bodenverhaftet bleibt - in dieser männerdominierten Welt des teils derben Jahrmarkttreibens.
Überaus geschickt in den historischen Hintergrund von Bestrafung und Folter eingebaut: die ganz wundervollen, technisch überragenden Szenen im und mit dem Rhönrad, in den Raum gezaubert und gerollt von Alexander Müller.
Die ästhetische Leichtigkeit im harmonischen Fluss der Präsentation mag für die innere Größe des Volkshelden stehen. Jedenfalls kann der vor Ort bestens bekannte Künstler, Regisseur Adrian Schvarzstein auch dieses Mal mit seiner Regie nach einer Idee von Pavol Kelley ein begeisternd mitgehendes Publikum restlos überzeugen.
Ein visuelles „Märchen“ für sich erzählte Didac Cano mit seinem Diabolo, mit seinen auch gleichzeitig tänzerisch liebevoll geführten, aber auch streng geschleuderten Diabolos. Mit einer bislang so eher kaum gesehenen, also mit einer sehr individuell- markanten Handschrift malte, zeichnete, ritzte und hämmerte er seine Buchstaben in die Luft; kreierte ein Kunstmärchen, eines der abstrakten Bilder der absurden Art; hinreißend verwirrend.
Unvergesslich – wie so vieles in diesen Programmen.
Cirque Noel: Compagnia Baccalà: “PSS PSS” am 29. Dezeber 2019 im Orpheum Graz; Cirkus Younnak: “Cirkus Younnak” am 2. Jänner 2020 im Orpheum Graz. Letzte Vorstellung am 5. Jänner.