Es war einmal der Überflieger. Auf in den Freiheitskampf! Die Sklaven in Yuri Grigorovichs martialischem Ballettepos „Spartacus“ haben ihre Ketten erneut gesprengt. In voller Requisitenmontur begehren sie wieder auf gegen ihre römischen Bezwinger. Raffiniert choreografierter Wahnsinn hypermaskuliner Kriegsentschlossenheit.
Obwohl mittlerweile 51 Jahre alt, funktioniert das Stück. Ausgesprochen gut sogar! Allen anfänglichen Bedenken und der alten Ausstattung zum Trotz. „Spartacus“ ist in München längst zum Dauerbrenner geworden. Man könnte sogar sagen, ein Signaturstück des Bayerischen Staatsballetts – so perfekt wird hier marschiert, solistisch oder kollektiv gelitten, Gelage ebenso wie erotische Orgien gefeiert und die Dekadenz selbstherrlicher Protze ausgetanzt. Verantwortlich dafür sind akribische Ballettmeisterarbeit und Tänzerinnen und Tänzer, die von Mal zu Mal alles geben, um die Zuschauer mitzureißen.
Dabei geht es in der dieser Geschichte überaus frivol, rüde und gewalttätig zu. Doch stop – als einfach so al fresco über die Choreografie hinwegwütenden Berserker hat Grigorovich den Titelhelden nicht konzipiert. Sergei Polunin müsste das wissen. Als ständiger Gast der Münchner Kompanie durfte er bei der Premiere im Dezember 2016 in der Produktion als Crassus debütieren. Nun übernahm er – nicht zum ersten Mal in seiner Karriere, aber erstmals auf der Bühne des Nationaltheaters – die Partie des legendären Gladiators. Herausforderung pur, die in der öffentlichen Bühnenprobe „(Fast) Spartacus“ am Samstag an seiner Stelle Osiel Gouneo (besetzt am 29.3.) durchprobierte. Mit atemberaubend schöner Linie. Unter Berücksichtigung des insgesamt vorgegeben Schrittmaterials. Ein Solist mit kraftexplosivem Furor und hingebungsvoller Partner, dem man die Sorge um und die Liebe zu Phrygia bei jeder Berührung und jeder Hebung glaubt.
Warum bloß nahm der gebürtige Ukrainer Polunin diese Probenchance nicht wahr? Sie hätte ihm erspart, seinen ersten Auftritt zu vergeigen, weil ihm der filmschnittartig-zügig herabgelassene Zwischenhänger den Weg nach vorn zur Rampe versperrte. Untendurch kam er nicht mehr. Den Rest seines Eröffnungsmonologs rasselte er dann umso heftiger mit der Kette, die der Interpret hier als Symbol der Unterdrückung zwischen den Handgelenken trägt. Doch der Star hat Glück. Nicht alle im Publikum begreifen die Dimension seines Missgeschicks. Das Verschleifen der dem Charakter choreografisch zugeschriebenen Nuancen aber nimmt seinen Lauf.
Seit er sein Engagement als Erster Solist des Royal Ballet hinschmiss, kultiviert Polunin konsequent das Image eines „bad boy of ballet“. In Hollywood strickt er an seiner Filmkarriere, dreht Pirouetten auf Laufstegen, präsentiert sich gern ausgefallen auf Fotos und in Videoclips und tourt mit eigenen Produktionen um die Welt – aktuell mit einer Dreimann-Version (Yuke Oishi) von Strawinskys „Sacre“.
Zuletzt katapultierte sich Polunin im Januar wegen unbedacht unqualifizierter Äußerungen über soziale Netzwerke in die Negativ-Schlagzeilen. In den Fokus genommen wurden da auch alte und neue Tattoos, so das auf der Brust prangende, in der Aufführung überschminkte Konterfei des russischen Staatspräsidenten Vladimir Putin. Seiner Beliebtheit scheint das bislang alles nicht wirklich geschadet zu haben. Ihn dazu angespornt, Rollenangebote sorgfältiger anzugehen, offenbar auch nicht. Eigentlich traurig, bei diesem gigantischen, scheinbar mühelos in die Höhe schnellenden Sprungtalent.
Dennoch: Ab dem dritten Szenenbild holt Sergei Polunin einiges an Rollengestaltung nach. Das Gladiatorenduell mit Zachary Catazaro (Debüt als Gas) klappt. Was er inmitten seiner Männer an technischem Input und choreografischem Vokabular unterschlägt, weiß er mit zähneknirschender Wut und großen Gesten zu camouflieren. Und verleiht der Titelpartie damit überraschender Weise ungeahnte Züge, die Spartacus als implodierenden Haudrauf-Rebellen in unmittelbare Nachbarschaft zu seinem – eigentlich charakterlich viel mieseren – Kontrahenten rücken. Das hat, zugegebener Maßen, bei aller Ungenauigkeit Thrill.
Mit Emilio Pavan hat Ballettchef Igor Zelensky – einmal mehr! – einen tollen und fundamental starken Gegenspieler für Spartacus neu eingeführt. Kurz nach seinem Debüt als Onegin brilliert der Australier als verbissen-ehrgeiziger, römisch-erhabener und seine Lüsternheit in den Pas de deux mit der verschlagenen Mätresse Aegina kein bisschen verhehlender Feldherr Crassus. Er hebt nicht nur top vom Boden ab und landet stets sauber, sondern lässt darüber hinaus ganz bewusst die seine Figur erklärenden Emotionen schillern. Gemeinsam mit Prisca Zeisel präsentieren sich die beiden als geniales Paar des Abends.
Absolute Heroin dieser Neuauflage ist Ksenia Ryzhkova. Sie debütiert als Phrygia an Polunins Seite. Bombensicher – über manch fast improvisierte Momente hinweg. Dass sie in diese Rolle mit den kniffeligen Hebefiguren wie in eine zweite Haut schlüpft, zeigte sich schon bei der Probe. Leidenschaft musste sie nun – neben einem Polunin vornehmlich im (künstlerischen Überlebens)Kampfrausch – doppelt aufbringen. Am Ende: Jubel für ein erleichtert lachendes Protagonisten-Quartett.
Bayerisches Staatsballett „Spartacus“ am 25. März 2019 in der Staatsoper München. Weitere Vorstellungen am 15. April, 8., 11. 22., 31. Mai