Die weitläufige Welt des Cirque Nouveau scheint sich im gar nicht so großen Graz heimisch zu fühlen. Werner Schrempf, Initiator der unter dem Titel Cirque Noel alljährlich gezeigten Aufführungen, trägt seit 2008 kontinuierlich seinen Teil als Intendant bei und begann gleichzeitig, ambitioniert und bestärkt durch anhaltende Erfolge, ein Festival dieser Kunstsparte hier aufzubauen.
Vorstellungen werden nicht nur eingeladen, sondern sie entstehen auch in Koproduktion Eine erste Eigenproduktion gab es unter der Regie von Adrian Schvarzstein 2010 mit „Call Me Maria“, eine weitere, „Seasons“, wurde 2015/16 präsentiert. Mit der kanadischen Compagnie The 7 Fingers (zu Gast 2017/2018) wird derzeit eine weitere Eigenproduktion erarbeitet; sie umkreist Leben und Werk Stefan Zweigs und wird nach ihrer Premiere auf internationale Tournee gehen.
In Zusammenarbeit ist man aber auch mit regionalen Künstlern, mit „Akrosphäre“: So wird von diesen seit vergangenem Jahr im Rahmen eines Workshops angeboten, Zirkusluft zu schnuppern; angedacht ist, dass daraus kleine Produktionen entstehen.
Dass dieser Neue Zirkus, der seit den 70er-Jahren Europa und Amerika erobert, mit Verzögerung nun auch hierzulande Beachtung findet, schlägt sich in immer mehr regionalen Initiativen (neben Graz in Wien und Salzburg) nieder; seit vergangenem Jahr österreichweit auch budgetär in Form von 300.000 € pro Jahr von Seiten des Bundes. Für die Grazer Veranstaltung gibt es Unterstützung von Stadt, Land Steiermark sowie Graz Tourismus, Graz Holding und diversen Sponsoren; verkauft wurden im letzten Jahr 13.000 Karten.
„Air Play“ von Accrobuffos
In der soeben zu Ende gegangenen Veranstaltungsreihe vom 18. Dezember 2018 bis 6. Jänner 2019 gab es erstmals drei unterschiedliche Programme. Als Familienvorstellung für alle ab 6 und Junggebliebene angekündigt, wurde mit „Air Play“ von Accrobuffos (USA) eröffnet. Das Künstlerduo, der ehemalige Jongleur Seth Bloom und die einstige Balletttänzerin Christina Gelsone, arbeiten seit 2006 zusammen und sind mit viel Erfolg in mehr als 50 Ländern unterwegs. In dieser Produktion gestalten sie gemeinsam mit dem weltweit agierenden Luftinstallationskünstler Daniel Wurtzel eine Geschichte zweier Geschwister; besser: eine Anzahl kleiner Szenen zwischen zweien, die spielen und staunen. Beim Staunen über die Luftskulpturen, die sie mit ihren riesigen Seidentüchern durch gezielt-gekonnte Bewegung kreieren, wie über die, die mithilfe zahlloser Ventilatoren als bis zu 10m hohe textile Seiden-Schönheiten entstehen, haben sie fast jeden im Publikum, jung oder alt, fasziniert neben sich. Das Bewegungsspiel in Rot- und Gelbvariationen lässt nicht nur die Augen, sondern auch die Gedanken und Gefühle (mit-)tanzen, zum Teil auch träumen. Allein, Faszination für ein und dasselbe verliert alsbald an Kraft; eine, die die Darbietungs-Variationen zwar wieder aufbauen, und die daher etwa fliegende Schirme wieder kurz (aber spürbar schwächer) bestaunen lassen, die aber das Erschlaffen des Spannungsbogens nicht mehr verhindern können. Nicht zuletzt auch durch die sich wiederholenden „Intermezzi“ der beiden sich zweifellos unter ihrem Wert und Können schlagenden Protagonisten: bei ihrem sehr simplen und kreativitätsfernen Einander-Necken, -Suchen und -Finden so wie beim Verstecken von Kleidungsstücken und wie vor allem auch bei ihrem wenig einfallsreichen Einbeziehen des Publikums, so „professionell“ es auch durchgeführt wird. Einzig die Szene ihres „Verschwindens“ und Hüpfens in den Riesenballons ließ immerhin noch einmal allgemeine Heiterkeit aufkommen. Und dass es abschließend noch „ordentlich“ schneit, ergibt zwar wiederum ein hübsches Bild, aber - und sehr nachvollziehbar – nur einen letztendlich sehr enden wollenden Applaus.
„Scotch and Soda“ der Company 2
Von mitreißender Lebensfreude, kraftvoller Virtuosität und handfestem wie auch feinem Humor geprägt: Der von der Uncanny Carnival Band mit Live-Jazz und -Varieté-Musik der Goldenen Zwanziger berauschend gemixte „Scotch and Soda“ der Company 2 (Australien). Gegründet wurde diese 2008 von der klassischen Tänzerin Chelsea McGuffin und dem Akrobaten David Carberry. Gearbeitet wird seither im vielköpfigen Kollektiv. Angepeilt wird ausnahmslos eine Verbindung aus zeitgenössisch aufbereiteter, klassischer Zirkuskunst, aus Tänzerischem und Live-Musik – mit mehr oder weniger großer Einbeziehung des Publikums, aber jedenfalls immer so, dass dieses sich als Teil des Geschehens empfindet. Im Gegebenen Fall als Teil eines Zusammentreffens (konkret auf der Bühne) von unterschiedlichsten „Alltags“- Menschen – hier etwa eine Art von Ganoven, Tagelöhnern, Außenseitern – und Musikern, die das bunte (Akrobaten) Grüppchen herausfordern und inspirieren. Eine (Alltags-)Geschichte beginnt ihren Lauf: mit kleinen und größeren Aktionen, mit Kräftemessen, mit „Selbstdarstellungen“, mit gelungenem und weniger gelungenem Zusammenspiel, mit Zu- und Abneigung, individuellen Eigenheiten und kleinen Ausflippern, mit Bosheiten und Humor. All dies „beiläufig“-leichtfüßig hingezeichnet mit wagemutiger, temporeicher Akrobatik und mithilfe einiger weniger, einfacher Geräte wie Stange, „zusammengeschusterte“ Wippe, Trapez und Seil. Die hier zu erlebende verdeckt-unterspielte, verulkte Perfektion in der scheinbaren Schludrigkeit einer im Grunde heruntergekommenen Welt lässt so gerne einsteigen in diese erträumt heiter-heile, wenngleich doch auch realistisch-harte Atmosphäre der Überraschungen und Herausforderungen, Enttäuschungen und Freuden sowie der kleinen Malheurs. In eine Welt, wo letztlich aber alles und auch noch so Unvorstellbares (an Akrobatik) gelingt und ein gutes Ende nimmt – selbst in der Liebe… ;
Eine künstlerisch außergewöhnlich gut gelungene, kongeniale Zusammenarbeit von Musik und performativer Akrobatik, getragen von Witz, Humor und Tiefsinn, die ihr Publikum vielschichtig animiert entlässt.
"Backbone" von Gravity & Other Myths
Die 2009 in Australien gegründete Gruppe Gravity & Other Myths ließ schon vor einem Jahr mit ihrer ersten Produktion „A Simple Space“ so manch tradierten Glaubenssatz in puncto Schwerkraft vergessen. In ihrer in mehreren Kategorien nominierten, international wiederum hochgelobten und herumgereichten zweiten Produktion „Backbone“ lassen sie um eine weitere Ebene aufhorchen, respektive aufschauen: um die der künstlerisch-visuellen Aufbereitung ihres exzeptionellen akrobatischen Könnens und Tuns. Ja, einige wenige Male lassen sie sich „sogar“ von einem ebenso spektakulären wie aufs Einfachste reduzierte Lichtdesign (Geoff Cobham) unterstützen. Und die beiden großartigen Live Musiker, der gefragte Perkussionist Chris Neale und der vielseitige Alexey Kochetkov, setzten neben der diskret tragenden Begleitung des Geschehens hie und da aus dem Hintergrund feinfühlige Tempo- und Rhythmik-Akzente, ohne den vielsagenden Wert der Stille zu vergessen.
Im Mittelpunkt aber stehen fast ausnahmslos und ungeschmückt die Körper der 10 KünstlerInnen; ihre Instrumente, auf denen und mit denen sie allein und in präzisester Übereinstimmung feinnervig-achtsam spielen. Als visuelle Kammerstücke der Bewegung könnte man ihre Werke bezeichnen, als durchchoreographierte Luftakrobatik, als dramaturgisch komponierte Tänze in der Horizontalen und Vertikalen mit retardierenden Elementen.
Zu erzählen ist aber auch von so manch fein abgestimmten pas de deux der Kräfte und der (unvorstellbaren) Balance. Oder von der ungeahnten Variationsbreite und Interpretationsvielfalt von Handstands-Positionen, dargeboten im grazilen Bewegungsfluss eines pas de trois. Oder von dem, was uneingeschränktes Vertrauen auf und in den anderen an Zusammenspiel möglich macht, an Variationen zaubern kann; allein schon in denen des Aufbauens und Abbauens einer Körper-Skulptur in Bewegung.
Was diese Gruppe erfahrbar macht, ist einerseits an die Grenzen gehende Bewegungstechnik. Andererseits und vor allem: eine so noch nicht erlebte, tief berührende Poesie der Bewegung.
Cirque Noël: “Air Play” am 30. Dezember 2018 und „Scotch and Soda“ am 2. Jänner 2019 in der Helmut List Halle, Backbone am 5. Jänner im Orpheum Graz