Selbst ohne rosarote Brille nichts in schwarz-weiß. Ob Pornografie, Geschlechterungleichheit oder aktuelles Weltgeschehen: Die Sommerszene Salzburg stellt Fragen und eröffnet Perspektiven. Die britische Theatergruppe „Stan’s Cafe“, die belgische Choreografin Mette Ingvartsen und der indonesische Choreograf Eko Supriyanto – drei Große unter vielen – greifen heiße Eisen an und widerstehen dem Druck, Antworten zu liefern.
Auf den ersten Blick erkennt man Hügel in unterschiedlicher Größe, fein säuberlich auf weißes Papier gehäuft. Beim Näherkommen entpuppen sich die Hügel als große Menge aus Reiskörnern. Anmerkungen am Rand des Papiers werden lesbar, etwa „Menschen, die letztes Jahr nach Österreich eingewandert sind“ oder „Menschen, die letztes Jahr aus Österreich ausgewandert sind“. Dass just diese beiden Reisberge gleich groß sind, verblüfft. Ist die Alpenrepublik doch nicht so von Überfremdung bedroht, wie Teile aus Politik und Medien gebetsmühlenartig beteuern?
„Of All The People in All The World“ nennt sich die performative Installation der britischen Theatergruppe „Stan’s Cafe“, welche die Sommerszene Salzburg heuer erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. In der zentral gelegenen Kollegienkirche ist sie neun Tage lang bei freiem Eintritt begehbar. Auf eindrucksvolle Weise visualisiert James Yarker und sein Team mit fünf Tonnen Reis Statistiken, informiert über Tagespolitisches, Historisches, Popkulturelles (Falko ist ein Reiskorn!) und hebelt dabei etliche Vorurteile unaufgeregt aus den Angeln. Das seit Jahren weltweit tourende Projekt „Stan’s Cafe“ zählt zu Recht zu den intelligentesten, niederschwelligen Angeboten für Menschen, die sonst kaum mit den darstellenden Künsten in Berührung kommen. Auch in Salzburg ist der sakrale Raum bestens von Laufpublikum besucht.
Bereits zum fünften Mal in Folge richtet Angela Glechner die Salzburger Sommerszene aus, ein Internationales Performing Arts Festival. Klug spannt sie in zwölf Tagen einen Bogen aus dreizehn Produktionen, der von renommierten Auslandsgastspielen, über lokale Uraufführungen, einem dichten Vermittlungsprogramm und Site Specific Aktivitäten bis zum täglichen Blog des Archivars Julius Deutschbauer reicht. Beispielhaft löst die Sommerszene dabei ihren Anspruch ein, gesellschaftsrelevante Inhalte mit anspruchsvoller Ästhetik zu verbinden. Heuer steht der Bühnenraum als Verhandlung von Geschlechterverhältnissen im Fokus.
Mette Ingvartsen, seit Jahren forschend in Sachen Sexualität unterwegs, zeigte gleich zwei Arbeiten: das Gruppenstück „to come (extended)“ und das Solo „21 pornographies“. Die dänische Choreografin zählt zu den Stammgästen an der Salzach. In ihrem Solo „21 pornographies“ nähert sich die Künstlerin dem heiklen Spannungsfeld bewusst minimalistisch. Lange ist Ingvartsens Stimme das einzig Sinnliche im leeren Bühnenraum, dessen schwarzer Boden lediglich drei Reihen Neonröhren queren. In glasklarem sanften Englisch erzählt die Performerin in Business-Outfit Szenen aus Marquis de Sades Roman „Die 120 Tage von Sodom“. Bilder von demütigenden Gewaltexzessen verlagert sie so geschickt in die Köpfe des Publikums. Eine Episode über den Zwang Kot zu essen, konterkariert Ingvartsen mit dem Hinweis, dass unter den Sitzplätzen im Zuschauerraum Schokolade klebe, Mozartkugeln wohlgemerkt. Was auf den ersten Blick banal wirkt, entwickelt einen kalten Sog. Selbst wenn die Performerin später nackt bis auf die Socken auf die Bühne pisst oder mit einem übertrieben heiterem Tänzchen die sexuelle Befreiung der 1968er-Generation zitiert, bleibt das Geschehen erschreckend distanziert. Im minutenlange Drehen um die eigene Achse mit einer Kapuze über dem Gesicht brandmarkt Ingvartesen am Ende der Vorstellung die sexualisierte Foltermethoden im Irak-Krieg. Ohne hysterisch-mediale Inszenierungspraktiken vertrocknen ihre 21 Pornografien zum Brechreiz.
Luft zum Atmen bietet im Gegensatz dazu „Balabala“ von Eko Supriyanto. Sein fünfköpfiges Frauenensemble lehrte der indonesische Choreograf die traditionell männlichen Kriegstänze Cakalel und Soya-Soya, um sowohl die konventionellen Geschlechterverhältnisse in seiner Heimat als auch den westlichen Blick auf südostasiatische Volkstänze zu hinterfragen. Supriyantos, ausgebildet in javanischen Hoftänzen und Pencak Silat, sammelte im Erwachsenenalter zusätzlich zeitgenössische Kunsterfahrungen, etwa mit Madonna, Peter Sellars und Lemi Ponifasio. Mit diesem bilingualen Tanzhintergrund ausgestattet, dekonstruiert Supiyanto die Bewegungen der Kampfkunst respektvoll. Und so ballen die schlicht gekleideten, jugendlichen Performerinnen, deren asiatische Tänze üblicherweise eine komplexe Fingerfertigkeiten verlangen, die Hände zu Fäusten, stampfen breitbeinig oder springen in Ausfallgrätschen als wollten sie mit Pfeil und Bogen schießen. Die fabelhafte Vitalität kippt nie in bloße Aggression, sondern bleibt einer unerschütterlichen Durchsetzungskraft treu. Solchen Frauen wird man(n) sich zukünftig schwer entziehen können. Iskandar K. Loedin reichert das konzentrierte Geschehen mit pastellfarbenen Lichtwechseln an. Nyak Ina Raseuki steuert einen abwechslungsreichen Soundteppich bei. Fernab von folkloristischen Firlefanz bleibt die Bewegungssprache einer Gemeinschaft übrig, dessen Rollenaufteilung sichtlich wankt.
Sommerszene Salzburg noch bis zum 16. Juni 2018