Aufführungen mit Gästen sind spannend. Nicht etwa, weil sie besser wären. Die Wiener TänzerInnen erwiesen sich auch in der letzte Aufführung der „Giselle“-Serie dieser Saison als durchaus ebenbürtig zu den SolistInnen des Bolschoi-Balletts Olga Smirnova und Semyon Chudin. Vielmehr boten die beiden eine leicht veränderte Lesart, denn jede Kultur bringt unterschiedliche Nuancen in ihre Erzählung der alt bekannten Geschichten. Bei der bevorstehenden Nurejew-Gala sind sie dann in Werken des 20. und 21. Jahrhunderts zu sehen.
Rückblick: Giselle
Wie schon in ihrer Schwanensee-Interpretation zeichnet sich Olga Smirnova auch als Giselle durch ihre durchdachte Rollengestaltung auf – abgesehen davon, dass sie und ihr Partner Semyon Chaudin mit tänzerischer Exaktheit und Virtuosität brillieren. Die ländliche Unschuld, die sie verkörpert, erinnert stellenweise sogar an die legendäre Neu-Interpretation der Rolle bei Mats Ek, der sie als geistig eingeschränktes Wesen portraitierte, das (folgerichtig) in der psychiatrischen Klinik landet.
Die traditionelle Wiener Version von Elena Tschernischova endet freilich mit dem Tod der Protagonistin, doch Smirnova legt ihren „Wahnsinnstanz“ am Ende des 1. Aktes durchaus verhalten und ganz in Erwartung ihres jenseitiges „Lebens“ als Wili an. Da kommen die Gesten der Mutter vor (überzeugend gespielt von Franziska Wallner-Hollinek), mit der Myrtha, die Königin der Wilis, die jungfräulich verstorbenen Mädchen aus den Gräbern holt. Da ist ein ganz entrückter Blick, mit dem Giselle bereits sehnsuchtsvoll abdriftet. Smirnova macht diese Szene zu einem Tanz zwischen den Welten.
Im Reich der Toten angekommen ist Smirnova im 2. Akt ganz schwereloser Geist, der Albrecht vor dem mörderischen Tanz der Wilis rettet. Ist es wirklich Liebe, die über den Tod hinausgeht? Oder nicht eher eine Idee, eine Erinnerung, die die jüngst Verstorbene hinüber gerettet hat? Die Bolschoi-Ballerina bleibt jedenfalls durchgehend entrückt. Der Beschützerinstinkt, mit dem sie Albrecht gegen Myrtha verteidigt, wirkt beinahe mechanisch. Die beiden haben auch das zweideutige Ende verändert. Bei Tschernischovas Inszenierung fällt der Vorhang, während Albrecht am Boden liegen bleibt. Doch an diesem Abend steht Albrecht am Ende stolz aufgerichtet und eindeutig lebendig im Zentrum der Bühne und schüffelt versonnen an den Blumen, die er von Giselle erhalten hat. Ist er geläutert? Oder wird ihm bewusst, dass er aus diesem Abenteuer noch einmal mit heiler Haut heraus gekommen ist? Semyon Chudin lässt seinen Albrecht durchwegs zwischen ambivalenten Gefühlsebenen schwanken, die auch trefflich zur derzeitigen #metoo-Debatte passen, die sich hier unweigerlich aufdrängt. Dazu passt auch die unerbittliche Myrtha, der von Kiyoka Hashimoto als emotionsloser Racheengel mit unnachgiebiger Härte interpretiert wird. (Anmerkung: Könnte bitte endlich jemand dieses unglückliche Kostüm mit dem Stehkragen und dem Blumenkränzchen verändern?)
Wunderbar das Ensemble als Geisterwesen, allen voran Sveva Gargiulo und Anita Manolova als Moyna und Zulma, ebenso wie bei den fröhlichen Volkstänzen im 1. Akt. Ebenda auch das Bauernpaar mit Natascha Mair und Scott McKenzie, der mit seiner flinken Beinarbeit besticht. Musikalisch bereitete das Staatsopernorchester unter Paul Connelly wieder höchsten Genuss.
Ausblick: Nurejew Gala
Gäste einzuladen dient aber auch dazu die SolistInnen eines Ensembles zu entlasten, die im Fall des Wiener Staatsballetts mit seiner extensiven Repertoirepflege nicht gerade unterfordert sind. Gerade von einer Japan-Tournee zurück standen gleich die Wiederaufnahmen von „Giselle“, der Dreiteilers „MacMillan | McGregor | Ashton“ sowie Vorstellungen von „Cendrillon“, „Marie Antoinette“ und „Ein Sommernachtstraum“ in der Volksoper bevor.
Am 29. Juni endet diese Saison jedoch mit einer wahren Tour-de-force. Bei der Nurejew-Gala zum 80. Geburtstag des Namensgebers wird auch noch der 200. Geburtstag von Marius Petipa nachgefeiert. Ballettchef Manuel Legris hat ein umfangreiches Programm zusammengestellt, in das nicht nur alle (Ersten) SolistInnen, sondern ein Großteil des Ensembles eingebunden ist, etwa in Ausschnitten aus den Nurejew-Choreografien nach Petipa (und Iwanow) von „Raymonda“ und „Schwanensee“. Kiyoka Hashimoto und Denys Cherevychko sind in einen Ausschnitt des selten aufgeführten Petipa-Werkes „Satanella“ zu sehen.
Für einen Ausschnitt aus der erfolgreichen „Peer Gynt“-Premiere dieser Spielzeit kehrt Davide Dato an der Seite von Nina Poláková wieder auf die Bühne zurück, der bei der letztjährigen Nurejew-Gala eine schwere Knie-Verletzung erlitten hat (tanz.at berichtete). Und auch Manuel Legris ist diesmal wieder live dabei, als Patner von Irina Tsymbal in „Le Rendez-Vous“ von Roland Petit.
Dazu kommt eine erlesene Gästeliste. Ein Wiedersehen mit Olga Smirnova und Semyon Chaudin gibt es in Jean-Christophe Maillots „The Taming of the Shrew“ und im Diamond-Pas-de-deux aus Balanchines „Jewels“. Marianela Nuñez und Vadim Muntagirov vom Royal Ballet tanzen „Marguerite and Armand“. (Das Ashton-Stück ist übrigens auch Teil des Programms „MacMillan | McGregor | Ashton“, wo die Titelrollen von Nina Poláková und Robert Gabdullin bzw. von Liudmila Konovalova und Jakob Feyferlik getanzt werden.) Zum 70. Geburtstag von Maurice Béjart hat John Neumeier 1996 sein 100. Werk choreografiert. „Opus 100“ thematisiert eine Männerfreundschaft zur Musik von Simon & Garfunkel. Nach Wien reisen dafür die Langzeit-Mitglieder des Hamburg Ballett Alexandre Riabko und Ivan Urban.
Wiener Staatsballett: „Giselle“ mit Olga Smirnova und Semyon Chaudin am 6. Juni 2018;
Die weiteren Vorstellungen dieser Saison:
„MacMillan | McGregor | Ashton“ am 8., 9. und 12. Juni; Nurejew-Gala am 29. Juni an der Wiener Staatsoper;
„Ein Sommernahctstraum“ am 11. und 18. Juni 2018 in der Volksoper