Ballettklassik auf Hochglanz. Die Story ist simpel: Mitten hinein in die Feierlichkeiten zu Raymondas Namenstag platzt der feurige Sarazenenfürst Abderakhman. Mit der sinnlich-erotischen Urgewalt des Exotisch-Fremden begehrt er die junge Gräfin von Doris zur Frau. Am Ende bezahlt er sein forsches Begehren in einem Schwertduell – der einzigen impulsiven Action-Passage der Choreografie – mit dem Leben.
Was die Liebe betrifft, bleiben bei dem dünnspurigen, im höfisch-steifen Ambiente des Mittelalters angesiedelten Handlungsklassiker ansonsten alle Gefühle unter Kontrolle. Geflissentlich sorgt dafür die geheimnisvolle Weiße Dame – die auch skulptural im Bühnenbild präsente Ahnherrin und Beschützerin des abendländischen Adelshauses. Kristina Lind verkörpert sie bei dieser Wiederaufnahme-Premiere am 22. Mai im Münchner Nationaltheater höchst akkurat und elegant über den handfesten Irritationen schwebend. Inmitten einer in nachtblauer Lichtstimmung noch eingefrorenen Gesellschaft eröffnet sie solistisch den Abend – und lenkt fortan feengleich über vier Bilder hinweg die Geschicke des Hauptpaars.
Finaler Höhepunkt des gut zweieinstündigen Abendfüllers ist ein rauschendes, von Folkloreelementen durchzogenes und dabei ganz in akademischer Tanztechnik dahinschwelgendes Fest. Herzallerliebster Hingucker: die Mazurka der zwölf strahlenden Ballettakademie-Kinder. Abgehandelt werden Hochzeit nebst Huldigung an den König. Ein Mitreißen aufgrund großer Emotionen oder Konflikte bleibt aus. Nicht das Drama, sondern der Tanz per se treibt den Inhalt als gestalterische Form voran.
So ist das eben in der vor 17 Jahren von Ray Barra zu Beginn von Ivan Liškas Direktionszeit für das Bayerische Staatsballett entstandenen „Raymonda“-Neufassung. Barras Tableaus, die kunstvoll aus zahlreichen Solovariationen, Pas de deux und raumgeometrisch trefflich gelösten Ensembleformationen gestrickt sind, lassen den Zweiakter stellenweise wie ein schlank-sinfonisches Tanzstück erscheinen. Mit hinein verkettet: meist flüchtige Interaktionen der handlungsführenden Personen, darunter Raymonda und ihre Entourage. Staatsballettneuzugang-Solistin Elvina Ibraimova (zuvor beim Bolshoi) und Prisca Zeisel entzücken von Auftritt zu Auftritt mehr – immer sobald gefordert auch überaus synchron. An ihrer Seite brillieren Jan Špunda (noch Gruppentänzer) und mit beeindruckend Leichtig- wie Lautlosigkeit Halbsolist Dmitrii Vyskubenko.
Es bereitet Vergnügen, der beeindruckenden Riege sprungversessener Tänzer zuzusehen. Erst versuchen sie sich gegenseitig mit doppelten Tour en l’airs auszustechen, um im nächsten Augenblick ihre spitzenmäßig auf filigrane Schrittkombinationen und Arabesken getrimmten Partnerinnen herumzuwirbeln. Perfekt dazu harmoniert die luzide Schönheit und – nach wie vor – eher schlichte Ausstattungspracht von Klaus Hellenstein. Auf den üblichen Ballettpomp und viel Requisitenbrimborium wird hier verzichtet. Und auch die Ohren jubilieren, wenn das Bayerische Staatsorchester Alexander Glasunows farbenreiche Musik mit ihren schwärmerischen, stürmischen oder verhalten-melancholischen Qualitäten derart einfühlsam wie unter Michael Schmidtsdorff präsentiert.
Nach acht Jahren Spielpause hat Ballettchef Igor Zelensky die konfliktschürende Partie des Orientalen Abderakhman mit einem erstmals dunkelbärtigen Jonah Cook wunderbar gegen den Strich besetzt. Cooks explosive Verführungskunst beeindruckt und verwirrt Raymonda gleichermaßen, zumal sie längst sitten- und glaubenskonform dem ehrenhaften Kreuzritter Jean de Brienne versprochen ist. Jinhao Zhang hat leider kaum Gelegenheit, seiner Ritterfigur Tiefe zu verleihen. Dafür zeigt er im Finale, wie große athletische Tänzer im Glückstaumel vom Boden abheben können.
Die sonst technisch wie darstellerisch stets souveräne Ksenia Ryzhkova befindet sich dieses Mal noch auf der Suche nach einem wirklich überzeugenden Profil für die Titelpartie. Innerhalb der raffiniert arrangierten Divertissements für Corps und Solisten einen glaubwürdigen menschlichen Charakter darzustellen, scheint sogar ihr auf Anhieb nicht leicht zu fallen. Noch vor kurzem schnürte Ihre Schlussaktgestaltung in Christian Spucks „Anna Karenina“ einem schier die Kehle zu.
Mit der vor 120 Jahren in St. Petersburg uraufgeführten „Raymonda“ fügte Marius Petipa, legendärer Ballettmeister der Zaren, seiner Karriere nach der berühmten Trias der Tschaikowsky-Werke „Dornröschen“, „Nussknacker“ und „Schwanensee“ einen weiteren – aus heutiger Sicht nicht unbedingt gleichrangigen – Glanzpunkt hinzu. Im bisherigen Repertoirespektrum des „neuen“ Bayerischen Staatsballetts stellt „Raymonda“ einen speziellen Fall dar: von den Interpreten her absolut sehenswert, inhaltlich weniger ergreifend.
Bayerisches Staatsballett: WA-Premiere „Raymonda“ am 22. Mai 2018 im Nationaltheater München. Wieder am 31. Mai, 1., 9. Juni