Die Kunst, das echte Leben zu zitieren. Die gute, alte Metapher für das Leben schlechthin: Der Tanz. Um ein musikalisches Arrangement aus Monteverdi, Händel und Purcell – live vom Ensemble L’Arpeggiata vorgetragen und unter der Leitung von Christina Pluhar – entspinnt Mei Hong Lin ein festlich angelegtes Stück, das am 14. Oktober im Linzer Landestheater Premiere hatte.
Das Leben wird dabei als eine Art unter dem Alltagsleben liegender, festlicher Tanzsaal aus Sehnsucht, Schmerz und diversen anderen existenziellen Gefühlsagen entworfen, die uns scheinbar allen innewohnen: der Tanz als eine der „vielleicht ursprünglichsten, authentischsten und intimsten Ausdrucks- und Kunstformen“, so der Programmtext ergänzend zum Lebens-Plot von „Music for A While“. Und vorneweg: Es ist ein kleiner, aber feiner Unterschied, ob man Geschichten über das Leben, bzw über verschiedene Leben erzählt – oder nur eine einzige, relativ allgemein zu verstehende Aussage ins Zentrum stellt, nämlich, dass das Leben an sich Geschichten erzählt. Letzteres wird schnell ein Lebenspotpourri oder ein Bildkompott, das freilich umso süßer schmecken kann. Aber ob es sich dann gleich um „archetypische Selbsterfahrung“ (lt. allgemeinem Text im Programmheft) handelt, wenn eine einsame Frau im Brautkleid quasi als wiederauferstandenes Pina-Bausch-Zitat der gebrochenen Feierlichkeit durch das Stück und über die Bühne stolpert, sei dahingestellt. Was Soldaten am Abend in den Tanzsaal treibt, kann man sich auch vorstellen, man hat das, auch ganz zitathaft abrufbar, schließlich schon x-Mal in diversen Filmen gesehen. Ebenso ein Fall für die emotionale Mustererkennung: das ewige Geschlechterspiel zwischen Mann und Frau. Und dass neben den Heten auch ein paar Männerpärchen, bzw auch mal eine Transe im Getümmel zu finden sind, rundet das Bild gesellschaftlich „bunt“ ab.
Im alltagsentrückten, allgemeinen Menschsein trifft sich hier also eine fragmentarisch und szenisch auf die Bühne gebrachte Abendgesellschaft, mit der Grundaussage: Wir sind alle Menschen und brauchen Sinn, der bei „Music for A While“ Gefühl heißt. Wir feiern das Leben voller Liebe und Schmerz. Selig die, die das so sehen und leben können! Die Tagespresse fand das Stück übrigens umwerfend – und das ist insofern nachvollziehbar, weil Mei Hong Lin es tatsächlich meisterhaft versteht, die emotionalen Strippen zu ziehen, was meint: Emotionen bildhaft zu setzen und diese Bilder reichhaltig pulsierend wie dahinschmelzend zu zitieren, gepaart mit dem eindrücklich-dynamischen choreographischen Stil einer Tanzrichtung, die sie leichtfüßig beherrscht und die mittlerweile als zeitgenössischer Tanz allgemein verständlich kanonisiert ist. Das Publikum wird durch eine Schar an Tänzerinnen und Tänzern durch das Stück getragen, die nicht nur ihr tänzerisches Handwerk verstehen, sondern den Tanz virtuos zum Leben erwecken. Die erwähnte Braut Andressa Miyazato ist übrigens eine anmutige Tänzerin. Schön anzusehende Kostüme von Dirk Hofacker, ebenso das Bühnenbild, im wörtlichen Sinn brillant und glitzernd, vertikale Kristallkaskaden, ein stilisiert gewölbtes Metallobjekt (das sich an einer Stelle im Stück zwar in sinnloser, weil, Achtung Theaterslang, etwas „gemachter“ Symbolik umdreht und wieder umdreht … aber wir wollen nicht kleinlich sein, wie gesagt: insgesamt wunderbar, ebenso im Zusammenspiel mit dem Lichtdesign von Johann Hofbauer).
Besondere emotionale Tiefe kommt durch die Musikauswahl ins Spiel, sowie durch ein mitreißendes Musikensemble und die ebenso mitreißenden SängerInnen Céline Scheen und Vincenzo Capezzuto. Etwas untypisch für ein Ballett heute vielleicht, die Musik durch den gesamten Abend doch sehr in den Vordergrund zu rücken, aber warum nicht. Immerhin trägt „Music for A While“ den eigentlichen Fokus schon im Titel. Es ist vielleicht sogar ein Markenzeichen von Mei Hong Lin, dass sie der Musik allgemein großen Stellenwert einräumt, sie meiner Meinung nach besonders in diesem Stück zum eigentlichen künstlerischen und emotionalen Agens macht. Das lässt sich auch am Schlussapplaus ablesen, der neben der allgemeinen Begeisterung bei den SängerInnen aufbrandete (jaja, der Premierenapplaus, ein Thema für sich). Um aber wieder zum Tanz zurückzukommen, zum eigentlichen Kern des Balletts: Was die Ästhetik der Tanzsprache an sich betrifft, befindet sich deren „Authentizität“ – verwenden wir das, zumindest im aktuellen Tanz- und Körperresearch an sich problematische Wort nochmals –, irgendwo zwischen einem zeitlosen wie ahistorischen zeitgenössischen Merge, der sich quasi in dynamischer Innerlichkeit und mit vielen Lebens- und Stilzitaten im Gepäck auf der Reise zu einem ewig romantischen Fluchtpunkt zu befinden scheint. Kunst als virtuose Interpretation und Bühnenzauber: das ist hier in mehrfacher Weise der kritische Stachel im Echten. Und das Echte: in mehrfacher Weise zu schön um wahr zu sein.
Mei Hong Lin: "Music for a While", Uraufführung am 14. Oktober 2017 im Musiktheater Linz, weitere Vorstellungen am 27. Oktober, 6., 13., 16., 18., 21. November und 17. Dezember