Bei einer Auslastung von mehr als 90 Prozent und damit mehr als 50.000 Besuchern konnte für die für die 50. steirischer herbst-Ausgabe und die 12. und damit letzte Intendanz des Festivals von Veronika Kaup-Hasler bereits eine erfreuliche Bilanz gezogen werden: noch vor den allerletzten Tagen und damit auch noch vor dem Ausspielen von vier weiteren außergewöhnlichen Produktionen aus dem Bereich der darstellenden Kunst.
In der kuscheligen Tiefe einer altehrwürdigen Mauernische gibt der belgische Kleinkunst-Performer Benjamin Verdonck seine „Childhood’s Memories“ zum Besten. Konterkarierend zum Ort blättert er in einem be- und ausgeschnittenen Hochglanzmagazin, was über Projektion auf einer Leinwand zu verfolgen ist. Abwechselnd dazu liest er chronologisch geordnete Texte aus Kindheits- und Jugendjahren; vorbehaltlos offene Berichte und emotionslos festgehaltene, geradlinige Gedanken von „kleinen“ persönlichen Inhalten. Sie ergeben ein ebenso individuelles wie allgemeingültiges, lückenhaftes Mosaik eines jungen Lebens; eingepflanzt in das große, scharfkantige Welten-Mosaik, das so ganz anderes in seinen Zentren der Aufmerksamkeit hat. Verdonck intensiviert diese Kontraste noch durch neues Arrangieren ausgeschnittener Seiten-Schnipsel, erhöht damit die Absurdität der „großen“ Gegebenheiten. Die schönen bunten Hochglanz-Bilder, die klaren Worte: In diesem kaum zu verbindenden Nebeneinander stechen die einen schmerzhaft in den Augen, klagen die anderen verhalten in den Ohren.
Ganz leise entwickeln und entfalten sich die Bilder, die die Künstlergruppe Berlin von ihren mehrmaligen Aufenthalten über fünf Jahre in Zvizdal (so auch der Titel des dokumentarischen Filmprojekts, verschnitten mit 3 kleinen Installationen vor Ort), einem Dorf bei Tschernobyl, mitgebracht haben. Bilder und kurze Tondokumente von zwei Menschen, die als einzige diesen „unbewohnbaren“ Ort nie verlassen haben und 30 Jahre lang ohne fließendes Wasser, Strom und Telefon dort verbrachten – weil sie es so wollten. Dieses einsame, beschwerliche und eintönige Leben zu vermitteln, gelingt dem multimedial operierenden Kollektiv ganz ausgezeichnet. Mit Fingerspitzengefühl und nahezu vollkommener Zurücknahme zeigen sie auf, was Leben auch sein kann, was Solidarität und insbesondere Selbstbestimmung an zufriedener Gelassenheit generiert. Sie, diese beiden Menschen und die Künstler durch ihre feine Arbeit, machen Mut.
„An Atypical Brain Damage“ - dieser Titel deckt sich mit dem einer Kurzgeschichte von Can Xue, da deren Inhalt impulsgebend für diese Performance war. Für eine, die mit der globalen Bilderwelt von Extremen, von Schrill-Gleißendem konfrontiert; mit dem Aufeinanderprallen von östlicher und westlicher Kultur, von Traditionellem und der Jetzt-Zeit, von Drag Queen und Samurai, von Roadmovies und Butoh und noch vielem anderen – wenn man so will, wenn man es (er)kennt und bevor man versinkt in diesem visuell-akustischen, Grenzen überschreitenden Rausch. In einem professionell kreierten und realisierten, keine Frage; welchen Inhalts und mit welcher Intention eher schon.
Die Produktion zeige, wie in „herbst Theorie zur Praxis“ nachzulesen ist, die Welt von Tianzhuo Chen (*1985 in Peking) in seinem Londoner College. Eine Jugendkultur also, aber auch eine Art Selbstportrait des international erfolgreichen Künstlers. Jedenfalls umgesetzt in einer Wahrnehmung der Überzeichnung und Überspitzung, der Vermischung von (fast) allem und jedem - basierend auf, resultierend aus (?) lustvoller (?) Verunsicherung.
Das Publikum pendelt im großräumig, zum Teil parallel bespielten Raum zwischen Installationen und zumeist kurzen Sequenzen der queeren Art. Alptraum ähnliche Szenen wechseln mit solchen krankhafter Verwirrung, sinnentleerter monologischer Dialoge, Aggressionen und exzessiven Auslebens. Man geht und steht und staunt; man geht erschöpft.
„Pursuit of Happiness“, also das, was in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung allen BürgerInnen als „unveräußerliches Recht“ zugestanden wird – nämlich das Recht auf das Streben (nach Glück)! – das haben sich dankenswerterweise KünstlerInnen einmal näher angeschaut; bescheidenerweise oder zumindest vorsichtigerweise in Zusammenarbeit. Denn: Ganz so einfach ist das halt doch nicht, das mit der Umsetzung des Rechts und noch weniger das mit der Umsetzung des Ziels, wie „Nature Theater of Oklahoma“ (vielen herbst-Interessierten bestens bekannt) und die EnKnapGroup – das einzige permanente Ensemble für zeitgenössischen Tanz in Slowenien – erfolgreich beweisen: Man könne nur immer wieder auf sein Recht pochen und es versuchen, das Erreichen des Glücks. Mit dieser Erkenntnis wird man zufrieden entlassen – weil resultierend aus einer fast zwei Stunden dauernden, hoch professionellen, vielschichtigen und formal differenzierten Auseinandersetzung mit dem, was auch als Vogerl bezeichnet wird.
Da versuchen sich in einer Art erstem Teil, - angesiedelt in einem Western Saloon - die Cowboys und -Girls zum In-Frage-Stehenden und Angestrebten, also zum Phänomen des Glücks, in Monologen (in kläglich mit Klischees und Flüssigem durchtränkten). Wenig verwunderlich (aber für den Zuseher umso amüsanter), dass mitteilungsschwangere Kommunikation immer nur dann gelingt, wenn die Fäuste sprechen dürfen. Das, was hier auf visueller Ebene, also in Bewegung, Gestik und Mimik sowie in der Verwendung Western-immanenter Requisiten, atmosphärisch über auf die Bühne gestellt und über diese gewirbelt wird, ist Spaß von Qualität.
Was dann, im nahezu surrealen zweiten Teil rund um Bagdad sich abspielt, was da, in einer vielfach erzählten (ganz wunderbar von Bence Mezei vorgetragen und moderiert), aber nicht minder aktionsgeladenen Mischung aus irrwitziger Opferbereitschaft und poetisch fiktiven Weltverbesserungsträumen sowie Kunst- und Selbstkritik (köstlich und mit großem Können von den Tänzerinnen der Gruppe visualisiert) staccato-artig abgeht, das sollte man gesehen haben, sollte man nicht nur im herbst erleben können; zusätzlich sollte es auch zum Nachlesen zur Verfügung stehen: denn das, was Kelly Copper und Pavol LIska hier an einfallsreicher Konzeptarbeit und stringenter Regie geleistet haben, wird auch noch durch ihren mit Wortwitz und -Spiel verdichteten Text zu einem abschließenden Höhepunkt dieses rundherum besonders gut gelungenen steirischen herbst-Festivals.
„Pursuite of Happiness“, am 14. Oktober in der Helmut List Halle; „Childhood‘s Memories“ am 13. Oktober im Festivalzentrum; „An Atypical Brain Damage“ Uraufführung am 12. Oktober im Dom im Berg; „Zvizdal“ am 11. Oktober im Orpheum; alle im Rahmen von steirischer herbst 2017