Auf den ersten Blick verbindet die choreografische Handschrift von Catherine Diverrès, Grande Dame de la danse contemporaine française, wenig mit jener des jungen Spaniers Salva Sanchis. Was ihnen jedoch gemeinsam ist, ist die Auseinandersetzung mit den essenziellen Eigenschaften des Tanzes: einmal als spirituelle Meditation, das andere Mal als Vitalkick auf der Grundlage von social dancing.
In ihrem passionierten Bemühen den Tanz als (von der Musik) unabhängige Kunstform zu emanzipieren sind die GründerInnen des Modern Dance akustisch zunehmend puristischer geworden. Auch Catherine Diverrès ist in dieser Tradition groß geworden, darüberhinaus ist der Einfluss von Butoh-Altmeister Kazuo Ohno (1906-2010) in ihrer Wahl der Musik als dramaturgisches Mittel deutlich erkennbar. Als Hommage an diesen, ihren großen Lehrer hat Diverrès das Stück „Ô Senseï“ kreiert. Nach längerer Abwesenheit ist sie damit 2015 wieder auf die Bühne zurückgekehrt. Dass sie das als Solo konzipierte Stück mit einer Tänzerin (Katja Fleig) teilt, verstärkt das Thema der Metamorphose und Wandlung, die dem japanischen „Tanz der Finsternis“ zugrunde liegt. Diverrès setzt jede Geste mit Nachdruck und verwandelt sie in eine Botschaft. Ob in schwarzem Anzug mit weißem Hemd ohne Musik oder im roten pailletenbesetzten Ballkleid zu den Klängen des „Ave Maria“ und später zu Presleys „Are you lonesome tonight“, das sich zu einem rauschhaften Walzer verdichtet, Diverrès verkörpert mit ihrem Tanz die Suche nach Lebenssinn, nach Spiritualität und Transzendenz. Die schemenhafte Darstellung eines Tänzers auf einem Video könnte den Geist Kazuo Ohnos symbolisieren, der diese Choreografie bestimmt.
Das zweite Stück des Abends ist formal streng und in seiner Klarheit bestechend. Pilar Andrès Contreras interpretiert „Stance II“, das ursprünglich von der Choreografin selbst getanzt wurde, mit uneingeschränkter Integrität: eine Tänzerin in schwarzem Kleid auf einer kahlen Bühne, zu Klaviergeklimper und einem Text. Freilich nicht irgendeiner, sondern aus „La Terra di Lavoro“, geschrieben und gesprochen von Pier Paolo Pasolini. Dessen ruhige, sonore Stimme wird sparsam durch Noten am Klavier (Eiji Nakazawa) ergänzt, die gleichsam die räumliche Wahrnehmung zu dehnen scheinen.
Bei Catherine Diverrès gibt es keine Effekthascherei. Dieser Arbeit liegt eine tiefe Ernsthaftigkeit und wenn man will, Wahrhaftigkeit zugrunde. Der Tanz ist bei ihr ein Mittel zur Meditation, ein spiritueller Weg. Damit knüpft sie an den sakralen Tanz an, wie er seit Urzeiten in unterschiedlichen Zivilisationen gepflegt wurde und wird.
Salva Sanchis. Ebenso wie social dancing – um den missverständlichen deutschen Begriff „Gesellschaftstanz“ zu vermeiden. Der spanische Tänzer und Choreograf Salva Sanchis spricht in diesem Zusammenhang von „experiential dance“, den er mit dem „formal dance“, also dem Bühnentanz, verbindet. Ausgangspunkt und "driving force" für seine Choreografie „Radical Light“ ist elektronische Musik vom Duo Jaris Vermeiren und Senjan Jansen, die gemeinsam als Discodesafinado firmieren. Die Musik beginnt mit Basswummern, dann knistert es. Die Bewegungen mäandern durch die fünf Tänzerkörper, choreografische Techniken wie stop and go, freeze and go, kommen zum Einsatz, ganz so als ob den Tänzern immer wieder die Luft ausginge. Doch wenn der Beat einsetzt, übernimmt er die Körper. Der Rhythmus verändert nicht nur die Bewegungsdynamik, sondern auch den Muskeltonus. Der lässig-lockere Tanzmodus wird akzentuierter, bestimmter. In den vorgegebenen choreografischen Strukturen bewegen sich die Tänzer mit ihrem jeweils individuellen Stil und evozieren so Clubbing-Atmosphäre im changierendem hellen Licht oder Halbschatten.
Mit den zunehmend komplexeren elektronischen Clustern vollzieht sich eine musikalisch tänzerische Symbiose, die den Zusehern zunehmend in die Glieder fährt – die Spiegelneuronen leisten hier ganze Arbeit. Trotzdem will man nicht von seinem Sitz aufspringen und selbst abtanzen, sondern ist von den Bühnenaktionen geradezu hypnotisiert. Die Tänzer sorgen dafür mit einer cool distanzierten Haltung mit der sie die Musik zwar umsetzen, sich aber nicht von ihr vereinnahmen lassen. Ein harter Schnitt beendet diese knapp einstündige, großartige Fusion aus Bühnentanz und social dancing.
Inga Huld Hakonardottir, Pavel Savel, Stanislav Dobak, Thomas Vantuycom und Salva Sanchis entlassen das Publikum mit einer Vitalspritze, die ebenso wie das Selbsttanzen eine Lebensenergie freisetzt und eine subversive Kraft ankurbelt. Insofern kann „Radical Light“ abseits jeglicher Botschaft als höchst politisches Stück gelten.
Compagnie Catherine Diverrès: „Ô Senseï & Stance II“ am 17. Juli im Odeon; Salva Sanchis „Radical Light“ am 19. Juli im Akademietheater im Rahmen von Impulstanz (noch bis 13. August 2017)