Ballerina fährt Traktor. Als der Vorhang sich hebt, ist Alexej Karenins Wahlparty schon voll im Gange. Seine Frau bleibt – vorerst noch – eine stille, distinguiert-moderne Erscheinung am Rand. Anna Karenina, Hauptprotagonistin von John Neumeiers jüngstem choreografischen Bravourstück, langweilt sich an der Seite des karrierefokussierten Spitzenpolitikers (nach bereits erfolgtem Bühnenabschied herausragend: Ivan Urban).
Bald zieht sie sich aus dem Trubel in die Eleganz der gemeinsamen Villa zurück, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Ihre Ehe wird bald zerbersten. Das spürt man, noch bevor ein Szenenwechsel den Zuschauer in die Welt des charismatischen Sportlers Graf Wronski, hyperfitter Mannschaftskapitäns eines Lacrosse-Teams (kanadischer Nationalsport!) führt. Für die schicke Ausstattung zeichnet wieder der Choreograf selbst verantwortlich, nur die Titelfigur trägt Modekreationen von Albert Kriemler/Akris.
Wie Tolstoi in seiner Romanvorlage verortet auch Neumeier die Beziehungsverwicklungen der drei geschilderten Familienkonstellationen in der Gegenwart. Jeden seiner – durchweg bewundernswerten – Rollenträger (darunter Karen Azatyan als verunglückter Gleisarbeiter und sich immer wieder in die Handlung mischendes Todessymbol) lässt er fast drei Stunden lang das Seelenleben ihrer Figuren in einem ergreifend und unmittelbar verständlichen Gesten- und Bewegungsvokabular ausleben. Anna Laudere – die emotionsgebeutelte, zwischen mütterlicher Liebe und Leidenschaft zerrissene Karenina ist ihre erste große, abendfüllende Partie – und Edvin Revazov als ihr Geliebter bauen ab ihrem ersten Zusammentreffen eine Spannung sich zuspitzender Intimität auf, die eine Sogkraft entwickelt wie ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen kann.
Vom Society-Hero Wronski abserviert und vom Naturburschen Lewin hingebungsvoll umsorgt (letzterer eine Art amerikanisches Pendant zu Richard Strauss‘ Ballettgestalt des Joseph: Aleix Martinez), verleiht die 21-jährige Emilie Mazoń als Kitty ihrem liebeskranken Irrsinn zeitgenössisch-drastisch Ausdruck. Dolly dagegen (Patricia Friza) erwischt ihren Mann Stiwa (Dario Franconi) in flagranti. Leidtragende des Ehebruchs sind ihre Kinder. Hier erreichen die Teenies der Ballettschule des Hamburg Ballett, dass sich ihr Herzschmerz aufs wie gebannte Publikum überträgt. Mit einem Tee-Picknick, zu dem die zwei Buben kleine tänzerische Einlagen beisteuern, halten sie mit kindlicher Überzeugungsstärke die Betrogene von ihrem Weggang ab.
Die unterschiedlichen Lebensumstände und -welten charakterisiert Neumeier – vergleichbar seiner akustischen Dramaturgie im „Sommernachtstraum“ – jedoch nicht nur tänzerisch. Musik von Tschaikowsky steht für das gesellschaftliche Großstadtambiente. Un(ter)bewusstes und konfliktbeladene Momente untermalen Schnittke-Kompositionen. Sobald sich die Handlung aufs Land verlagert, entladen sich die Emotionen zu Ohrwürmern (u.a. „Moonshadow“ oder „Morning has broken“) von Cat Stevens. Mancher mag das kitschig finden. Im Sinn einer filmhaft-realistischen Kontrastdramaturgie passt allerdings sogar, dass die Tänzer mit einem veritablen Traktor über die Bühne kurven dürfen. Neumeiers vor offenem Vorhang ineinander fließende Tableaus funktionieren jedenfalls und tauchen das Ganze in eine akribisch recherchierte, kraftvolle Aura.
Am Ende wird Anna, seelisch zerrüttet und psychisch durch Pillenkonsum in ihren Wahrnehmungen gestört, von ihrer Todessehnsucht eingeholt. Auf ihren Sturz ins Grab folgt, vorlagengetreu, noch ein – etwas zu langer – Epilog. Als Ballett lässt sich „Anna Karenina“ kaum besser umsetzen – nur anders. Beim Bayerischen Staatsballett können wir ab 19. November auf Christian Spucks 2014 in Zürich uraufgeführte Adaption gespannt sein.
Hamburg Ballett „Anna Karenina“ von John Neumeier, Premiere am 2. Juli 2017 zur Eröffnung der Hamburger Ballett-Tage in der Hamburger Staatsoper