Es gibt Produktionen, da lässt man die spitze Kritikfeder am besten stecken. Christopher Wheeldons sechs Jahre alte Ballettkreation „Alice im Wunderland“ zählt hierzu. Zum Auftakt der Ballettfestwoche spielt das Bayerische Staatsballett darin spitzenmäßig verrückt. Und krönt mit der Repertoireübernahme seine erste Saison unter neuer Direktion. Die zweite Aufführungsserie dieser Produktion gibt es ab 20. April im Münchner Nationaltheater.
Zauberhaft verschachtelt
Dieses Ballett ist zu fantastisch – und in seiner stilübergreifenden Vielschichtigkeit, multimedialen Verschränkung, dramaturgischen Cleverness nebst unglaublicher Detailfülle unmöglich auf Anhieb voll erfassbar. Dabei hat der 44-jährige Engländer seine Adaption der irrsinnigen Abenteuer aus Lewis Carrolls 1865 veröffentlichtem Kinderbuch-Klassiker völlig realistisch-logisch entwickelt: Die Zeitreise der Titelfigur durch traumwandlerisch-bizarre Welten beginnt bei einer familiären Gartenparty viktorianischen Zuschnitts.
Die Szene erinnert in ihrer tanzeloquenten Machart an die Handlungsballett-Granden des Londoner Royal Ballet: Frederick Ashton und Kenneth MacMillan. Wheeldon und sein für die bombastisch-einfallsreiche Ausstattung verantwortliches Team versammeln hier sämtliche handlungstragenden Figuren. Choreografisch genial gespickt mit vielen Kostüm- und Requisitenideen, die einerseits auf den Fortgang der Geschichte hinweisen, andererseits das Publikum an unzählige, liebevoll im Set herausgearbeitete britische Traditionen (wie gerahmte Stickbilder oder papierene Poesiealbumbögen) erinnern. Angesichts wackelnder Süßspeisen und einem Bayerischen Staatsballett in Bestform gehen einem schon in den ersten 20 Minuten die Augen über.
Aufgepasst, der Magier unter hoch aufgerollten Locken ist Münchens Shooting-Star Jonah Cook! Bei seinen crazy Hutmacher-Shownummern ist er später super gut auf klackernden Steppschuhen unterwegs – zu Joby Talbots tickender, schlagwerkreicher und eigens für dieses Werk komponierter Musik. Beim Entree des Radschas mit Harem-Entourage lernt man Ensemblemitglied Henry Grey näher kennen. In seinen butterweichen Rückenwindungen schlummert Carrolls Dope qualmende Raupe. Als solche treibt er Alice im 2. Akt mitten in eine psychedelische Selbsterfahrung hinein. Was so aussieht, dass sich die herrlich natürlich agierende Ballerina in ein großes Ensembletableau aus neoklassisch herumwirbelnden Paaren stürzt. Ihr erster Versuch, in diesen verwunschenen Garten zu gelangen, scheitert an einem viel zu winzigen Türchen.
Sogar die Erfahrung des Wachsens und Schrumpfens lässt Wheeldon seine Hauptprotagonistin mit Hilfe von Perspektivwechseln und Theatereffekten austanzen. Dass Alice und Jack, der Sohn des Gärtners sich mögen, wird in einem neckischen Pas de deux erzählt. Maria Shirinkina und Vladimir Shklyarov – exzellente Premierenbesetzung der nahezu durchgehend präsenten Hauptfigur und des von Häschern gejagten Herzbuben, die zum Schluss gemeinsam in der Jetzt-Zeit ankommen – laden ihre Begegnung zum Hinschmelzen schön mit dem pubertären Aufflammen einer ersten Liebe auf.
Doch so ein im 19. Jahrhundert unziemliches Techtelmechtel, bei dem das verliebte Paar Rose gegen Keks (zwei der immer wiederkehrenden Leitobjekte) tauscht, duldet die resolute Mutter nicht. Sie bezichtigt den Burschen des Diebstahls und lässt, indem sie ihn feuert, bereits Züge ihres imaginären Alter Ego aufscheinen. In diesem Part der dominanten High-Society-Lady und gnadenlosen Herzkönigin triumphiert mit mimisch-royalem Furor Séverine Ferrolier. Man könnte meinen, Wheeldon hätte ihr seine Parodie auf das Rosenadagio aus „Dornröschen“ auf den Leib choreografiert, bei dem sie die zwangsverpflichteten Kavaliere mit Watschen, Kopfnüssen und Exekutionsdrohungen herumkommandiert. Eingepfercht in einen rollenden Herzpanzer oder nicht: Ferrolier ist die Komik-Queen auf Spitzen.
Ihr zur Seite agiert Norbert Graf. Obwohl nur mit der Nebenrolle des ewig fügsamen Gatten und Strumpfhosenkönigs betraut, offenbart der Münchner Kammertänzer, welch‘ großartiger Charakterdarsteller in ihm steckt. In der turbulenten Gerichtsverhandlung des 3. Akts sieht sich der Zuschauer deshalb mit einer schwierigen Entscheidung konfrontiert: entweder das wahnwitzige Dialogspiel zwischen den beiden weiterzuverfolgen oder sich dem – in vollendeter künstlerischer Harmonie schwelgenden – Traumpaar Shirinkina/Shklyarov hinzugeben.
Javier Amo, der den mit Alice‘ Familie befreundeten Schriftsteller Lewis ideal verkörpert, hat den Auslöser seines Fotoapparats gedrückt. Und schon verschieben sich in Wheeldons grandioser, von Herausforderungen für Tänzer und Technik strotzender Ballett-Show optisch und musikalisch die Realitätsgrenzen. Ruckzuck wird Amo auch gestisch zum weißen Kaninchen und entführt Alice durch einen filmisch animierten Zaubertunnel. Wer sich nicht amüsiert bei den köstlich-virtuosen Duetten von Fisch und Frosch (Konstantin Ivkin, Marco Arena), dem um die Farbe der Rosenstöcke besorgten Gärtnertrio (darunter Ensembleneuzuwachs Alexander Omelchenko), den zum Croquet auf Spitzenschuhen hineinstolzierenden, dann in Form von Handpuppen tanzenden Flamingos oder bei der gruseligen (musikalisch Prokofjews „Danse infernale“ nachempfundenen) Küchenschlacht, in der sich Matej Urban als Herzogin und Mia Rudic als mordlustige Köchin in schwarzem Humor nur so suhlen, dem ist nicht zu helfen. Wheeldons riesige Grinsekatze und die kleinen Igel (Schüler der Ballett-Akademie) mussten einfach alle Herzen erobern.
Die Zweitbesetzung
Tags darauf: Nun darf sich die Zweitbesetzung durch Wheeldons gut dreistündiges Ballettabenteuer (inklusive zweier Pausen) spielen. Gewiss ein konditioneller Marathon für das zusätzlich mit Mitgliedern der Juniorcompany und Studenten der Ballett-Akademie aufgestockte Ensemble zu Beginn der Ballettfestwoche – insbesondere gleich nach der Premierenfeier. Schwächeln sah man freilich niemanden. Au contraire! Alle waren wieder mit vollem Einsatz bei der Sache. Und Krzysztof Zawadzki bewies hinter den Kulissen ein absolut ruhiges Händchen am Steuerknüppel des selbstfahrenden kleinen Türchens. Es scheint, er hat außer seiner Dozentur an der Münchner Ballett-Akademie eine Dauerverpflichtung beim Bayerischen Staatsballett: z. B. als Sklaventreiber in „Spartacus" und neuerdings auch als Butler und Henker sowie Fernsteuerer in „Alice“. Auf der Bühne sind seine Flirts mit der Köchin, die stets ihr Fleischerbeil durch die Gegend schwingt, eine besonders charmante Nebengeschichte.
In die Rolle des verliebten Gärtnerjungen Jack alias Herzbuben schlüpfte aus den Hutmacher-Steppschuhen vom Vorabend Tausendsassa Jonah Cook. So flink er auch auf seinen langen Beinen von Szene zu Szene eilte, man merkte ihm – seinen kraftvollen Crassus aus „Spartacus“ noch vor Augen – die Erschöpfung der vergangenen Proben und Vorstellungen schon ein wenig an. Eigentlich nachvollziehbar. Schließlich tanzen hier junge Menschen und keine Maschinen. Seine Höhepunkte setzte Cook nicht unbedingt in den kurzen komischen, sondern lieber in den breiter angelegten lyrischen Passagen.
Die Alice an seiner Seite war Ksenia Ryzhkova. Eine Ballerina, die man technisch wohl erst noch so richtig aus der Reserve locken muss ... Die schnellen Wendungen, hübschen Arabesques und Balancen dieser Partie – wie wohl aller großen klassischen Rollen – sind für sie ein Klacks. Wheeldons Alice-Interpretin aber kann sich nicht hinter schönen, virtuosen Schritten und Gesten verstecken. Eine veritable Interpretation funktioniert (ähnlich wie bei John Crankos Katharina in „Der Widerspenstigen Zähmung“) nur, wenn die Tänzerin sie tatsächlich über die technischen Anforderungen hinaus richtig auslebt.
Ksenia Ryzhkova nutzte die Chance, sich ausgesprochen lebhaft von einer kindhaft neugierigen und trotzig-bockigen Seite zu zeigen. Es gelang ihr – sogar sehr gut –, sich in überraschter Ratlosigkeit achselzuckend mit dem Publikum zu verbünden. Dabei wirkte sie bisweilen spielwütiger als die erfahrenere Maria Shirinkina vom Vorabend. Bei dieser erfolgte jede Geste und jede Aktion völlig schlüssig, wie selbstverständlich und unter voller Präsenz und Einbeziehung aller sie umgebenden Elemente und Darstellerkollegen – bis hin zu den Szenenübergängen, wo die Interpretin sich selbst überlassenen bleibt.
Ganz stilsicher, überzeugend, geradezu vor Glück miteinander sprühend erwiesen sich Ryzhkova und Cook bei ihrem großen Pas de deux im imaginierten Wunschgarten des 2. Akts. Inmitten bunter Blütenpaare verzauberten sie das Publikum mit einem vollendet schönen Liebesduett – ganz ohne zusätzliche Magie-Effekte. Das an Johnny Depps Kostüm aus Tim Burtons Blockbuster „Alice im Wunderland“ (2010) angelehnte Outfit des verrückten Hutmachers trug am 4. April Halbsolist Dustin Klein. Wie zuvor Cook übernahm er die vom Ausnahmetänzer Steven McRae (Principal des Royal Ballet) kreierte Stepppartie – und ließ das Metall seiner Schuhe taktgenau und lauter noch als sein Kollege zuvor durchs Nationaltheater hallen.
Ab dem 20. April stehen weitere „Alice“-Vorstellungen auf dem Programm – und damit (womöglich) bald neue Rollendebüts. Als weitere Alice-Interpretinnen nominiert sind Ivy Amista und Elizaveta Kruteleva. Letztere gab ihr Hauptrollendebüt in München als Lise in „La Fille mal gardée“. Osiel Gouneo soll als Herzbube in die Aufführungen einsteigen und Gianmarco Romano (er überzeugte in „La Fille mal gardée“ als Alain) übt schon als Dritter im Bund den Part des Hutmachers. Seltsam, dass Tigran Mikayelyan nicht schon in der zweiten Vorstellung die Doppelrolle Lewis Carroll/weißes Kaninchen übernehmen durfte. Sicherlich am brisantesten aber wird folgender Rollentausch: wenn sich Prisca Zeisel oder Luiza Bernardes Bertho in die gefürchtete Herzkönigin verwandeln.
Bayerisches Staatsballett „Alice im Wunderland“, Premiere am 3. April, Folgevorstellung am 4. April. Nächste Vorstellungen am 20. (Shirinkina/Shklyarov), 23. (Ryzhkova/Cook), 28. Und 30. April sowie am 4., 19. und 29. Mai 2017 im Münchner Nationaltheater