Als „Joint Venture“ bezeichnete Ballettdirektor Jörg Weinöhl sein zweites abendfüllendes Programm dieser Saison am Grazer Opernhaus. Eines, das er gemeinsam mit seiner Tanzpartnerin im Ballett am Rhein, mit der Spanierin Ainara Garcia Navarro choreographierte - als erste einer derartigen Zusammenarbeit. Entstanden war die Idee dazu bereits 2014, und es sollte ein ineinander verzahnter Dialog werden, was – dies gleich einmal vorweg - als gelungen zu bezeichnen ist.
Die tänzerische Erkundung so weitflächiger und tiefgründiger Ton-Räume wie die eines Johann Sebastian Bach ist zweifellos immer ein Risiko. Außerdem gelte heute allgemein, wie Otto Kargl in OE1 im Zusammenhang mit choreographierten Bach-Fugen und unserer Event-Kultur (zufällig einige Tage vor der Grazer Premiere jedoch nicht darauf bezogen) skeptisch bemerkte: „Das Auge muss auch befriedigt werden“.
Allein dem hier zugrundeliegenden, fein strukturierten Konzept konnten derlei „Gefahren“ nichts anhaben. Vielmehr wurde durch das spielerische „Gegeneinander“ der zwei tragenden Kunstformen ein perspektivisch erweitertes Miteinander geboten. Ausgehend von der Hypothese, dass weder alles hörbar noch alles sichtbar gemacht werden könne, gelang hier also gemeinsam der eine und andere Schritt über eine Grenze, die der einzelnen Gattung für sich allein normalerweise gezogen ist.
Auf der musikalischen Seite trug einen ganz wesentlichen Teil zum Gelingen des ergänzenden Zusammenspiels der finnische Pianist Pauli Matias Jämsä bei (zur Zeit Korrepetitor an der Oper Graz). Seine auf der Bühne gespielten Live-Interpretation der von den Choreographen ausgewählten Stücke perlten mit ungewöhnlich klarer Lebendigkeit von den Tasten; und die interpretierten „Goldberg-Variationen“ ließen nachdrücklich fühlbar werden, was Bach im Auftrag des russische Grafen in seiner Komposition, die „sanft und etwas munteren Charakters“ sein sollte, umzusetzen fähig war. Aber auch der Chor der Oper Graz unter Chordirektor Bernhard Schneider überzeugte mit seinen Darbietungen der Choräle.
Am Anfang und am Ende des Abends erklang die „Aria“; ein Rahmen, der in seiner Aufbereitung bereits Besonderheit barg: Beim Einnehmen der auf der Bühnenhinterseite aufgestellten Sitzreihen sah sich der Zuschauer mit den auf der Restbühne sich aufwärmenden TänzerInnen konfrontiert. Beim Erklingen der ersten Noten erstarrten sie in Regungslosigkeit, am Ende dieser ersten musikalischen Darbietung glitten sie zu Boden, um dann, bei der nahezu unmittelbar beginnenden Variation 14, jeder für sich und doch in einer einzigen großen Bewegung tänzerisch zu explodieren. Ein sehr starker Anfang, choreographiert wie die weiteren, darauffolgenden vier Variationen von Navarro. Einer, der von vornherein allen üblichen Erwartungshaltungen Kontrapunkte vor die Nase setzt.
Bevor am Ende die Aria wiederum erklingt, leert sich die Bühne – bleibt menschenleer; gibt dem inneren Auge Raum zum Nach-Sehen und -Empfinden. Was allerdings ganz wunderbar sich dennoch bewegt, ganz ruhig-diskret und fein, das ist (zuerst wohl eher unbemerkt) das Licht, durch das Lichtdesigner Bernd Burkrabek vorerst die Bühne „unendlich“ erweitert, um sie dann in der Dunkelheit fast gänzlich verschwinden zu lassen und das Licht sich schließlich im Publikum verliert; als abschließende, schräge barocke Perle.
Das, was sich zwischen diesen beiden dramaturgischen Polen tut und zwischen den beiden diagonal gesetzten, in Grau gehaltenen Polygonen auf der ansonsten wohltuend schmucklosen, grauen Bühne (Saskia Rettig), wird „räumlich“ zusätzlich kontrapunktisch gehalten vom Ortswechsel der Zuschauer, die nach der Pause im traditionellen Zuschauerraum Platz nehmen; grundsätzlich nicht wirklich notwendig, aber letztlich - wie einige weitere Details dieser Art - doch sehr überzeugend: Erlebt man doch die am Ende des ersten Teils getanzte „Die Kunst der Fuge, BWV 1080“ nun in nahezu identer Choreographie nochmals am Beginn des 2.Teils, aber eben aus gegensätzlicher Perspektive. Zusätzlich ist diese Tanzsequenz die einzige des Abends, die von beiden Choreographen gemeinsam gestaltet wurde (die Interpretation dieser Fuge war übrigens ihr erster gemeinsamer Auftritt als Tänzer beim Ballett am Rhein): eine besonders in sich ruhende, zurückgenommene Passage, die feinfühlig-konzentriert von Barbara Flora und Arthur Haas getanzt wird. Auch wenn etwa die Choreographie Navarros zum „Concerto in d-Moll BWV 974“, besonders gut getanzt von Clara Pascual und Simon van Heddegem, zu den Höhepunkten des Programmes gezählt werden kann, ist vor allem zu sagen, dass ausnahmslos alle mitwirkenden TänzerInnen des Balletts der Oper Graz außergewöhnlich gut disponiert waren: Mit ausdrucksstarker Konzentration und unter engagiertem Einsatz ihres tanztechnischen Potentials konnten sie besonders überzeugen.
Die unterschiedlichen Anforderungen zweier Choreographen sind nicht nur grundsätzlich eine Herausforderung für Tänzer, sondern verlangten - von Weinöhl wie auch Navarro sichtbar wohlüberlegt und dem individuellen Können angepasst.- in den einzelnen Choreographien so manches an Wandlungsfähigkeit. Die großteils sehr dichte Palette von Solo-Auftritten, Pas de deux, Pas de trois und diversen anderen Kombinationen bis hin zu kurzen Szenen des corps de ballett in variationsreicher Dynamik und wenig üblichen „Schnitten“ oder Wendungen sowie in vielen gut gelungenen, fließenden Übergängen forderten die Tänzer.
Dass sich Weinöhl der gestellten Herausforderung in Form einer Kooperation gestellt hatte, war eine sehr kluge Entscheidung: Nicht nur, weil durch einen Gastchoreographen dem Publikum ein erweitertes Kunst- Angebot gemacht werden konnte, sondern auch, weil zwei choreographische Handschriften der atmosphärischen Annäherung von Tönen und Bewegung eher gelingen konnte und auch immer wieder gelang. Ob es in eher abstrakter Form einer Navarro geschah oder in den thematisch greifbareren Kontrapunkten Weinöhls in den Chorälen: Barocke Dichte schwang in schlichter, akustisch-visueller Klarheit durch den Raum.
Ballett der Oper Graz „Kontrapunkt. Die andere Seite von Bach“, Uraufführung am 7. April 2017 in der Oper Graz. Weitere Vorstellungen am 13., 20., 23., 28., 29. Und 30. April