Das Handlungsballett sei passé, wird immer wieder behauptet. Mit „Gespenster / Ghosts“ straft Regisseurin Marit Moum Aune und Choreografin Cina Espejord diese Vermutung jedoch Lügen. Das Norwegische Nationalballett zeigte im Theater an der Wien, wie man heute mit Tanz eine Geschichte erzählt und überzeugte mit dem Ballett "Ghosts / Gesepnster" auf Grundlage von Henrik Ibsens Drama und mit der kongenialen Musik des Jazzmusikers Nils Petter Molvær.
In Ibsens Geschichte geht es um die Liebenden Regine und Osvald, deren gemeinsame Zukunft durch die Nachricht, dass Regine eine illegitime Halbschwester von Osvald ist, zunichte gemacht wird. Der Subtext der Geschichte sind die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern und Osvalds Krankheit, die von seinem Vater vererbte Syphilis. Man muss Ibsens Drama aber gar nicht kennen, um in der Choreografie des Norwegischen Nationalballetts jene familiäre Enge mitzuerleben, die die handelnden Personen immer mehr in die Verzweiflung treibt. Die allgegenwärtige Verängstigung, die Unfähigkeit Konflikte zu thematisieren und auszutragen, das gegenseitige Misstrauen verdichten sich zu einer Atmosphäre der Geheimniskrämerei und gegenseitigen Kontrolle. Das Vortäuschen einer heilen Welt, von der gleichzeitig alle wissen, dass sie nie existierte, wird zur Farce, die Familie zum Gefängnis, in dem jeder von den Geistern der Vergangenheit eingeholt wird.
Das Duo Marit Moum Aune und Cina Espejord hat diese psychologische Essenz in einem mehrstöckigen Haus (Bühnenbild: Even Børsum) angesiedelt. Der unterschwellige Psychoterror wird mit cineastischen Techniken wie zeitlichen Überschneidungen und Überblendungen eindrucksvoll übermittelt. Mehrere Zeitebenen laufen parallel nebeneinander. Jede Figur wird in eine junge und ältere Version aufgesplittet und von unterschiedlichen Tänzern verkörpert, in der Figur des Osvald steckt auch sein verstorbener Vater. Die Interaktionen zwischen Mutter und Ehemann, zwischen Mutter und Sohn, zwischen der Mutter und dem Pastor werden in den Pas de deux zunehmend beklemmender. Regine und Osvald treten als Kinder auf, doch selbst bei ihnen ist von kindlicher Unschuld wenig zu merken. 70 Minuten lang steuert das Geschehen auf ein fatales Ende hin.
Espejords Tanzvokabular setzt sich zwar aus der heute gängigen Mischung aus Neoklassik und zeitgenössischen Bewegungen zusammen, gleichzeitig stellt die Choreografin ihre Aktionen ganz in den Dienst der Geschichte, die hier nicht linear sondern in Form einer Collage erzählt wird. Eine verbindende Schlüsselrolle kommt dem Zimmermann Engstrand zu, der Regines Vater als Osvalds Vater preisgibt. Im Ballett verbindet er mit seinen Auftritten die zeitlichen Ebenen. Am Ende wird Regine in seine Stiefel steigen und mit ihm weggehen.
Das Norwegische Nationalballett überraschte bei seinem Gastspiel aber nicht nur choreografisch, sondern auch tänzerisch durch technisch starke und aussagekräftige Tänzer wie Andreas Heise als Osvald, Camilla Spidsøe als Mutter, die junge Grete Sofie Borud Nybakken als Regine oder Kristian Alm als Engstrand. Die Eleven der norwegischen Ballettschule Kristoffer Ask Haglund und besonders Erle Østraat lieferten eine eindrucksvolle Talentprobe.
In diesem rundum gelungenen Werk übernimmt die suggestive Musik von Nils Petter Molvær eine Hauptrolle; die Auftritte des Musikers mit seiner Trompete setzen den Rahmen für das getanzte Drama. Jubel im Theater an der Wien für dieses großartige Gastspiel.
Norwegisches Nationalballett Oslo „Gespenster“ am 3. April 2017 im Theater an der Wien. Das Ensemble ist ebendort mit „Carmen“ in der Choreografie von Liam Scarlett von 8. bis 11. April zu sehen.