Karussell des Lebens. In „Jean und Antonín“ lassen Karl Alfred Schreiner und Michael Keegan-Dolan das Gärtnerplatz-Ballett zu zwei energiegeladenen Sinfonien tanzen. Was die beiden sehr heterogenen Uraufführungen offensichtlich verbindet, ist die von abstrakten Gedankenwelten sinfonischer Musik inspirierte Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit sowie dem Verlöschen physischer Existenz und Kraft.
Harmlos – wie der aus den Komponisten-Vornamen gebastelte Titel „Jean und Antonín“ vielleicht vermuten lässt – kommt die neue Produktion der zeitgenössisch ausgerichteten Truppe also keineswegs rüber.
Eigentlich kommt das Feuerwerk immer zum Schluss. Im neuen Zweiteiler der Ballettkompanie des Staatstheaters am Gärtnerpatz aber werden die Konfettikanonen schon vor der Pause gezündet. Gnadenlos bunt öffnet der Theaterhimmel am Ende von Dvořáks „heiterer“ 8. Sinfonie seine Schleusen. Unter einem Wolkenbruch aus Papier wird eine emotionszerrissene, aufgekratzte Trauergemeinde samt hysterisch übersteigerter Gefühlseuphorie begraben. Das Publikum geht in die Auszeit nach einer bis zur Peinlichkeitsgrenze freizügigen Konfrontation mit dem Thema Tod (inklusive offenem Sarg).
Im ersten Teil „Antonín“ erhält man eine Partyanleitung für Begräbnisse der etwas anderen Art: Die Trauergäste holen aus ihren Taschen Ballons, Hütchen und einige Dosen Bier heraus. Frei nach dem Motto „Lebe lustig – alles danach ist ernst genug“. Für Pietät sorgen schon die mitgebrachten Blumen. Der aus Dublin stammende Gastchoreograf Michael Keegan-Dolan lässt 16 Tänzer 45 Minuten lang durchexerzieren, dass jeder im persönlichen Umgang mit seinen Emotionen Rückhalt bei anderen sucht (warum jedoch gleich in Form sexueller Ablenkung?!) und zugleich Momente mit sich selbst bzw. dem Verstorbenen braucht. Ein choreografischer Erlebniskatalog.
Den Einsatz zu Dvořáks tanzanimierender G-Dur-Sinfonie klopfen die Tänzer kniend, ihre Schuhe in Händen, fast trotzig herbei. Das Gärtnerplatz-Orchester unter Leitung von Michael Brandstätter spielt dazu vom hinteren Bühnensegment aus wunderbar live, wenn auch etwas holzbläserschwach. Technisch unverkünstelt mit viel dynamischem Schwung und zumeist weicher, fließender Gestik hat sich das Ensemble an impulsiv-alltäglichen Verhaltensmustern orientiert. Einzelne, die durch Essen, Rauchen, Schluchzen, extremes Abtanzen oder Ausziehen auffallen, werden immer wieder von einer kollektiven Bewegungswelle erfasst und mitgerissen.
Keegan-Dolans Ader für doppelbödigen Humor spiegelt sich allerdings nur bedingt in seinem Tanzvokabular. Zum Stückende hin verfallen seine Interpreten in Erinnerungsstarre. Dies ist der Augenblick, in dem sich der Tote – pikant-prominent besetzt – erhebt. Ballettchef Karl Alfred Schreiner darf vor seinem endgültigen Abgang noch einige Zigarettenzüge inmitten seiner Tänzer genießen.
Seine eigene Choreografie zu Sibelius’ 7. Sinfonie gibt dem Publikum inhaltlich weniger an die Hand. Dafür ist Schreiners ästhetische Ausgangsidee für „Jean“ ganz aus einem Guss: Die Tänzer sollen entweder die volle Mobilität ihres athletischen Berufs ausleben oder sie sehen sich ihrer körpersprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten beraubt. Auf weißem Boden gleiten sie allein oder in kleinen, sich skurril verformenden Gruppen durch eisige, ein wenig pathetisch anmutende Seelenlandschaften. Alles Fühlen scheint in einer spirituellen Ebene eingefroren zu sein.
Als Symbol für Endlichkeit lässt Ausstatter Heiko Pfützner eine überdimensionale Kerze entzünden. Das macht was her, bringt die Atmosphäre zwischen Interpreten und Zuschauern dennoch nicht wirklich zum Glühen. Sogar als eine der Tänzerinnen über Sibelius’ spätromantisches Melos gekonnt leichtfüßig hinwegtanzt, bleibt man innerlich auf Distanz. Leider.
Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz „Jean und Antonín“, Uraufführung am 1. April, weitere Vorstellungen: 3., 4., 6., 8., 9., 12. April, Reithalle