Weißer Terror, weiße Bräute. „Experimentell“ murmelt meine Sitznachbarin in den Premierenapplaus hinein, und beim Hinausgehen ein paar Schritte weiter raunt eine Besucherin der anderen zu: „Das war dieser Weiße Terror in Taiwan, steht im Programmheft“. Mei Hong Lins neues Tanzstück „Die Brautschminkerin“ ist von einer Novelle der taiwanesischen Autorin Li Ang inspiriert, die vor dem zeitgenössischen Hintergrund des taiwanesischen „Weißen Terrors“ spielt.
Die Novelle erzählt von einer jungen Frau, deren Ehemann nach der ersten Brautnacht vom Gewaltregime verschleppt worden war und dessen toter, geschundener Körper nach Tagen des Wartens zu ihr zurückkommt. Die Frau wird den Toten mit grober Nadel und Faden vernähen, mit Reis und Schminke wieder zusammenflicken – und ihr Leben lang traumatisiert sein. In dieser einzigen gemeinsamen Nacht wurde außerdem ein Sohn gezeugt, den die Frau alleine großzieht. Sie verdient ihren Lebensunterhalt mit dem Schminken von Bräuten, der Herstellung ihrer weißen Masken, während sie selbst ihr Leben in gleichsam maskenhafter Erstarrung verbringt. Ihre Erstarrung macht sie zudem blind für das Leben des mittlerweile erwachsenen Sohns, der das Andenken an den Vater nicht verkörpern kann – durch die an ihn gestellte unmögliche Aufgabe, also psychologisch klassisch, eine Art menschliches (und berufliches) Abbild des Vaters zu werden. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn gestaltet sich zunehmend zerrüttet, sie sprechen nicht mehr miteinander, der Sohn stirbt unerwartet. Das alles vor dem Hintergrund eines individuell wie kollektiv sich mannigfaltig spiegelnden gesellschaftlichen Traumas, einer Jahrzehnte andauernden Militärdiktatur in Taiwan, eine Zeit der Repression, der Verschleppung und des Mordens (das Kriegsrecht wurde erst 1987 aufgehoben). Und dann war da auch noch die Transsexualität des Sohnes, die die Mutter zu seinen Lebzeiten nicht wahrhaben wollte – und mit der sie am Totenbett Frieden schließt, indem sie den Sohn wie eine Braut schminkt. Ziemlich viel Stoff für ein Tanzstück also. Eines Tanzstücks, das mit tatsächlichen wie symbolischen Protagonistinnen wie Protagonisten ein Stück entfaltet, das sich zwischen der Erzählform eines Handlungsballetts sowie eines szenisch-assoziativen Bildreigens von Gemetzel bis Versöhnung ansiedelt.
An ausdrucksstarken Bildern mangelt es jedenfalls nicht: Die weißgeschminkte „Mutter der Gegenwart“ am Totenbett des Sohnes, die „Mutter der Vergangenheit“ als tänzerische Verdoppelung in diversen Szenen mit Vater und Sohn; mit und hinter Wandelementen agierende Tänzer und Tänzerinnen, sozusagen gleich kollektiver Erinnerungsschatten; das geknechtete Volk in Lumpen; als Einzelperson im Militärkostüm „das Regime“, das Zigarre rauchend, augenrollend und quasi mit Appetit auf Menschenfleisch den Wahnsinn verkörpert; fallweise Innereien; die Zahl 228, die als Symbol für den Beginn des taiwanesischen „Weißen Terrors“ steht (28. Februar 1947); eine Menge Statisten, die nochmal das Volk verkörpernd und wie leblos durch die Zeiten wandernd wärmende Mäntel aus- und anziehen; und gegen Ende setzen eine Menge Bräute in weißen Hochzeitskleidern den Symbolismus des „Weißen“ fort und sozusagen die westliche Hochzeitshaube auf – Weißer Terror/Weiße Masken/Weiße Brautkleider: als tanzender weißer Stoffbauschen der transsexuelle Sohn mitten drin. Den Reigen auf den toten Sohn beschließt ein märchenhaftes Meer aus Lampions, das wiederum auf den versöhnlichen Aspekt einer individuellen wie kollektiven Befreiung durch Erinnerung, Vergebung, Versöhnung hindeutet. Und so macht das Stück im opulenten Bogen eine Aussage auf die unumgänglich notwendige Aufarbeitung von individueller Trauer und Menschheitsverbrechen, wird da oder dort mehr oder weniger konkret – in inhaltlich schönen, kräftigen bis teilweise überdeutlich schrillen Szenen.
Als künstlerisch treffend erweist sich eine Bewegungssprache, die das zeitgenössisch internationale tänzerische Grundvokabular in manchen Figuren sozusagen auch traditionell einfärbt. Besonders die „Mutter der Gegenwart“ (Andressa Miyazato) besticht hier durch ihre puppenhaft stilisierte zierliche Gebrechlichkeit, die interessanterweise durch kurze und abrupte Anflüge einer Art groben Akrobatik unterbrochen wird – eine gelungene Entsprechung für eine ebenso abrupt gewaltsam sich hocharbeitende Trauer, oder allemal eines eruptiv sich verselbstständigenden Traumas. Sehr schön die Kostüme und das Bühnenbild (Dirk Hofacker). Eindrücklich ebenso Musik und Gesang: Sowohl die live gespielte Wölbbrettzither (Li-Yu You) als auch Textzeilen wie „Wenn die Toten gehen, bleiben die Lebenden zurück, den Toten gleich“ verdeutlichen eine Dunkelheit, die das Stück in seiner speziellen Geschichte, in seiner kulturellen Herkunftstradition sowie allgemein existenziellen Grundhaltung spiegelt (Gesang: Li-Yu You, Yuan-Keng Yu). Zwischen Tradition und Moderne angesiedelt, nimmt die Musik (Musikalische Leitung: Michael Erhard) die traditionelle Zither in ihre kleine Besetzung aus Cello, Schlagzeug, Tasten und einigen Blasinstrumenten auf, um an anderen Stellen eine ausdrucksstarke und präsente Tänzerschar mit einem Sound wie von harten Stockschlägen gemacht anzutreiben – um wieder später fast wie John Coltrane klingend das Leben in neuen, friedlichen Fluss zu bringen.
Fallweise driftet aber alles zusammen etwas zu sehr ins Plakative ab, was sich in ebenso pathetischen wie dennoch unzureichenden Gewaltszenen zeigt – oder auch in zu hinterfragenden Darstellungen wie der Figur des „Regimes“ (Geoffroy Poplawski). „Das Regime“ ist ein sein Movement gerne mit einem Stech-Ausfallschritt einleitender Systemcharakter, der sich im Militäranzug vor allem durch überdeutliche halbwahnsinnige Mimik auszeichnet. Manchmal wackelt er wie ein chinesischer Drache mit dem Kopf um sich ein anderes Mal, große lüsterne Gewaltaugen rollend, militant kantig zu gebären. Die bereits erwähnte Zigarre und das diabolische Grinsen tun an der Klischeefront ihr Übriges. Zum einen kann man nun sagen, dass „Das Regime“ lediglich eine Art Erinnerungsfratze im individuellen Leben der Mutter darstellt. Als derartig stilisierte Verkörperung fügt sie sich auch ins Gesamtbild – einerseits. Leider beschleicht einem andererseits aber bei einem derartig einfach konzipierten Regime-Overacting schon mal das Gefühl, dass so eine Diktatur nur ein Kasperltheater ist und ein Despot nur einer, der sich bei der Lebensfreude als Spielverderber aufführt. Dass es zudem „den Einen“ gibt, also den einen machtlüstern grinsende Diktator, der aus purer Lust am Wahnsinn alle anderen unterwirft und zu beherrschen vermag, ist wohl eher der Klassiker in der Märchenstunde über Diktatur. Dies sei vor allem angemerkt, weil das vom Stück selbst ins Treffen geführte drastische Leiden des Volkes (und auch die im Programmheft angedeuteten größeren Zusammenhänge hinsichtlich Diktatur und Gewaltherrschaft) eine konzeptuell nur einfache Erklärung findet.
So gesellt sich zu all den eindrücklichen Aspekten des Stücks und des Themas – und auch zu der zu begrüßenden Thematisierung dieser dunklen Geschichte Taiwans, zu der man Frau Lin beglückwünschen kann – ein wenig das Gefühl, dass sich dieses Tanzstück eine Spur zu viel vorgenommen hat. Es ist eine an ausdrucksstark intendierten Bildern reichlich angefüllte Geschichte, die nicht immer ganz nachvollziehbar ist. So bleibt ein wenig das Gefühl eines „Experimentellen“ (siehe Beginn), das es per se natürlich genau nicht ist. Es handelt sich im Gegenteil um eine klar vorgegebene Erzählung, die man in weiten Teilen kennen muss, um überhaupt in den Genuss des Verstehens zu kommen. Weißer Terror, weiße Masken, weiße Bräute, weiß nicht ganz, was es selbst sein will – neben einer Novellen-Vorgabe, die für sich komplex genug ist. Langer Applaus bei der Premiere.
„Die Brautschminkerin“, Premiere am 10. Februar 2017 im Landestheater Linz. Weitere Vorstellungen: 17., 22. Februar, 1., 6., 10. März, 12., 17., April, 11., 19., 22., 30. Mai, 1. Juni