… und das Politische in der Kunst. Die beiden belgischen Stars der zeitgenössischen Tanzszene Alain Platel und Sidi Larbi Cherkaoui gastierten zeitgleich in Wien bzw. St. Pölten. Beide stellten das Thema Gewalt zur Diskussion, ihre ästhetischen Zugänge waren hingegen grundlegend verschieden. Konnten sich Platels intellektuelle Überlegungen diesmal auf der Bühne über weite Strecken nicht übermittelten, schöpfte Cherkaoui aus einem schier unendlichen musikalisch-tänzerischen Fundus.
Die beiden haben die gleichen Wurzeln: Cherkaoui war Tänzer bei Les Ballets C de la B, unter anderem in Stücken von Alain Platel, bevor er selbst zu choreografieren begann. Alain Platels Background lag in der Sozialpädagogik bevor er seine Berufung für Tanz und Theater fand. Schon allein dieser Hintergrund macht einen Vergleich der beiden Künstler schwierig. Doch die beiden Stücke bieten sich durch ihre inhaltliche und zeitliche Nähe auch dafür an, wieder einmal über das Politische in der Kunst und speziell im Tanz zu diskutieren. Es wird ja heute von Kuratoren, Veranstaltern, von Künstlern und Kunstkritiker quasi eingefordert. Doch die Meinungen über dessen Bedeutung gehen (seit eh und je) weit auseinander.
„nicht schlafen“
Die Handschrift Platels zeichnet sich generell durch ein kompromissloses Enactment körperlicher Zustände auf der Bühne aus, sodass es für den Zuschauer kein Entrinnen geben soll. Das ist so einzigartig, dass ich es an anderer Stelle „Platel-Effekt“ genannt habe.
Diese Methode legt er auch seiner Untersuchung von Mahlers Musik (mit Bearbeitungen von Steven Prengels) zugrunde. Im ersten Teil von „nicht schlafen“ hetzt er acht Tänzer und eine Tänzerin aufeinander wie eine Hundemeute. Sie gehen aufeinander los, reißen dem anderen die Kleider vom Leib und malträtieren einander – eine gefühlte Ewigkeit lang. Bis es einen Toten gibt, der auf dem Haufen toter Pferde, die in Berlinde de Bruyckeres Ausstattung prominent drapiert auf der Bühne liegen, nach einer Art ritueller Begräbnis entsorgt wird. Damit schließt Platel an tagesaktuelle Bilder an, die man aus Film, Fernsehen und dem Internet bereits zur Genüge kennt. Der Impakt, den diese drastischen Bühnenaktionen haben sollten, bleibt aus. Nach einiger Zeit sinkt so mancher Kopf in den Zuschauerreihen auf die Brust … in Ironie zum Stücktitel.
Er habe sich anfangs gewehrt, ein Stück rund um Mahler zu machen, sagte Platel in einem Interview: „Ich hatte kein Verhältnis zu dieser spätromantischen Musik.“ Schließlich habe er aber die Herausforderung angenommen, auch weil er in der damaligen Zeit Parallelen zu heute fand. Tatsächlich verändert sich das Stück schlagartig, sobald sich das Geschehen auf Mahlers Musik bezieht. Spannung kommt auf, wenn die Tänzer Auszüge aus Mahlers Symphonien in einem chaotischen Display unterschiedlicher Bewegungsmodi – von Ballett bis zu afrikanischem Tanz und Musik – interpretieren. Dann wird die Verwirrung und Orientierungslosigkeit aus Mahlers Zeit, die für seine Musik so prägend ist, spürbar. Warum also eine Stunde lang soviel Gewalt auf der Bühne?
„Fractus V“
Mit „Fractus V“, einer Produktion aus dem Jahr 2015 ist Sidi Larbi Cherkaoui eines seiner stringentesten Werke gelungen. Nach längerer Zeit stand der Ausnahmetänzer auch selbst wieder auf der Bühne; mit ihm wieder eine famose Schar von Tänzern – der Lindy Hopper Johnny Lloyd, der Flamenco-Tänzer Fabian Thomé Duten, der Zirkusartist und Tänzer Dimitri Jourde, der Hip-Hopper und B-Boy Patrick Williams Seebacher aka Twoface – sowie japanische, koranische, afrikanische und indischer Sänger und Instrumentalisten. Und wieder gelingt es Cherkaoui die unterschiedlichen kulturellen Strömungen zu aufregenden Neukreationen zu fusionieren.
Auch in „Fractus V“ geht es um Gewalt: Noam Chomsky referiert über sie als ein Aspekt der Macht, die Tänzer mimen die Texte im Playback und begleiten sie mit Gesten. Cherkaoui lässt so Chomskys Ausführungen zu Tanz werden, so dass ihre eigentliche Bedeutung auf eine kinästhetische Ebene übertragen wird. Die Gesten spinnen den Text weiter und geben ihm dadurch einen anderen Sinn. In einigen Szenen wird das Thema Gewalt auf eine theatralisch verbrämte Weise verkörpert: Die Revolverschüsse und Fausthiebe werden von Trommelschlägen begleitet, die Treffer pantomimisch umgesetzt. So wird Gewalt einerseits aus einer Distanz erfahren und ad absurdum geführt. Andererseits schlagen die fünf Tänzer und vier Musiker eine Allianz der Kunst vor, die sich über Genregrenzen hinweg setzt und mit dem Publikum ein Theatererlebnis zelebriert. Cherkaoui schlägt eine Gegenwelt vor, ganz im Sinne Chomskys, der da sagt: „Gegen die Welt kann man einfach nicht alleine kämpfen … Was Sie hier machen ist, andere Menschen zu treffen und eine gemeinsame Wahrheit zu finden, eine Wahrheit, die eine gesunde Form der Koexistenz unterstützt …“ In „Fractus V“ geschieht das auf hochvirtuose und doch beiläufige Art, die von der Leidenschaft der Akteure übermittelt wird. Die Intensität und (teilweise) Selbstvergessenheit mit der sie ihre Instrumente spielen, singen und tanzen, ist auch für den Zuschauer ansteckend. Gleichzeitig könnte man behaupten, dass Chomskys Text im wörtlichen Sinne für die Entwicklung des Stückes wenig Relevanz hat.
Doch ist das ein Fehler? „Fractus V“ war sicherlich ein großartiger Tanz-, Musik- und Theaterabend und als äußerst gelungenes ästhetisches Erlebnis …
„…durch seine schiere Existenz politisch“
Die beiden Kreationen „nicht schlafen“ und „Fractus V“ sind symptomatisch für „das Politische“ in der Kunst. Wenn Ästhetik wie im Falle von „nicht schlafen“ mit dem Holzhammer operiert und quasi auf der Ebene politischer Kommentatoren daherkommt, ist die Botschaft dahin. Wenn sie wie bei „Fractus V“ in einem künstlerischen Fest mündet, bleibt von der ursprünglichen politischen Message auch nicht viel übrig. Na und?
„Vielleicht“, schrieb Christine Lemke-Matwey neulich in der Zeit, „sollte man einfach dankbar sein, dass es so etwas Querständiges, auf Anhieb Zweckfreies, ja Anti-Kapitalistisches wie die Kunst (und die Kunstbetrachtung) weiterhin gibt. Etwas so Geheimnisvolles, Reiches und oft genug Selbstverliebtes, das es auch deshalb zu bewundern und zu bewahren gilt, weil es, wenn die Qualität stimmt, schon durch seine schiere Existenz politisch ist.“
Alain Platel /Les Ballets C de la B „nicht schlafen“ am 19. Jänner im Volkstheater in Zusammenarbeit mit dem Tanzquartier Wien; Sidi Larbi Cherkaoui / Eastman „Fractus V“ am 20. Jänner im Festspielhaus St. Pölten. Sidi Larbi Cherkaoui /Eastman gastieren am 25. Februar mit dem Erfolgsstück "Babel (words)" im Festspielhaus St. Pölten