Mit einem dichten und abwechslungsreichen Programm wurden vom 15. bis 24.Juli als Saisonausklang 20 Jahre Intendanz Reid Anderson bei der Stuttgarter Ballett Festwoche gefeiert. Zur Einstimmung gab es die SWR-Dokumentation „Von Wundern und Superhelden: 55 Jahre Stuttgarter Ballett“ (noch bis Ende Oktober in der SWR-Mediathek nachzusehen). Eingebettet in diese Festwoche nahm Sue Jin Kang mit einer "Onegin"-Vorstellung ihren Bühnenabschied.
Die südkoreanische Ausnahmetänzerin beendet nach 30 Jahren Zugehörigkeit zum Stuttgarter Ballett ihre Karriere als Tänzerin um sich künftig ganz ihrer Aufgabe als Direktorin des Korea National Ballet zu widmen, das sie seit 2014 leitet. Nach ihren Ballettunterrichtsanfängen in ihrer Heimatstadt Seoul kam sie mit 15 Jahren nach Europa und studierte bei Marika Besobrasova an der Académie de Danse classique Princesse Grace in Monte Carlo. Drei Jahre später gewann sie als erste Asiatin den Prix de Lausanne. Mit 1.September 1986 wurde sie ans Stuttgarter Ballett engagiert und war damit die jüngste Corps de ballet-Tänzerin seit Bestehen der Compagnie. Acht Jahre später ernannte Marcia Haydée sie zur Solotänzerin und unter Reid Anderson avancierte sie 1997 zur Ersten Solistin. Ihr umfangreiches persönliches Repertoire umfasst zahllose klassische, neoklassische und zeitgenössische Partien in Werken von George Balanchine bis Glen Tetley, von Hans van Manen bis Uwe Scholz, von Jerome Robbins bis William Forsythe; viele Choreografen kreierten Rollen für sie wie u.a. Mauro Bigonzetti (mehrere Piecen, darunter in „Kazimir´s Colours“) oder Renato Zanella („Black Angel“) sowie Demis Volpi („Krabat“), Stephan Thoss („Les Noces“) und Enrique Gasa Valga („Madame Butterfly“), aber auch Christian Spuck („Songs“) und Jiří Kylián („Stepping Stones“). – Ihr Rollenkatalog liest sich wie das Who is Who der aktuellen Ballettgeschichte. Für ihre Interpretation der Marguerite Gautier in John Neumeiers „Kameliendame“ erhielt sie 1999 den Prix de Benois als höchste Tanzauszeichnung. Der Titel einer Kammertänzerin wurde ihr 2007 verliehen; im selben Jahr bekam sie den John-Cranko-Preis der John-Cranko-Gesellschaft. Als weitere Würdigung erhielt sie 2014 den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg.
Was macht diese wunderbare vielseitige Tänzerin zu einer so außergewöhnlichen Künstlerin? Dies konnte sie bei ihrer Abschiedsvorstellung noch einmal eindrucksvoll in einer ihrer Paraderollen als Tatjana unter Beweis stellen. Mit ihren 49 Jahren hat sie sich ihre mädchenhafte Ausstrahlung bewahrt, sie ist eine fragile introvertierte äußerst sensible Tatjana, die in weiterer Folge nicht nur eine hochdramatische emotionale Ausdruckskraft aus ihrem zarten Körper herausbrechen lässt, sodass sie das Publikum von Anbeginn gefangen nimmt und man ihre seelischen Kämpfe unmittelbar nachvollziehend mitlebt und mitleidet, sondern sie besticht tänzerisch immer noch durch unglaubliche Leichtigkeit und edle Eleganz. Eine wahre Sternstunde! Mit Jason Reilly als Onegin verbindet sie eine lange Bühnenpartnerschaft – diese Routine wirkt nie oberflächlich oder abgespult, sondern im Gegenteil, genau deshalb, weil die beiden einander in den bekannten Schrittfolgen und Hebungen so uneingeschränkt vertrauen, bleibt hier besonders viel Raum für gefühlsintensives Ausleben. Jason Reilly ist ein selbstverliebter, bornierter, vom Landidyll gelangweilter Schnösel. Während er Tatjana im Spiegel Pas de deux temperamentvoll erscheint, kehren sich im finalen Pas de deux die Positionen um: jetzt ist er es, der äußerlich gereift, aber innerlich vollkommen aufgewühlt, mit leidenschaftlichem Feuer für Tatjana entbrannt, sie mit aller Inbrunst für sich gewinnen will, während sie ihn mit Aufbietung aller emotionalen Stärke wegweist. Ist es ihr schmerzerfüllter, anklagender und durchdringender Blick, dem Onegin nach dem Duell nicht standhalten kann, so flieht er am Ende verzweifelt, als sie ihm mit letzter Kraft durch ihren ausgestreckten Arm die Tür weist, bevor sie in einem lautlosen Schrei bebend um Haltung ringt . Wie viel Energie in dieser fragilen Tänzerin steckt! Ihre Interpretation verursacht Gänsehaut, berührt die Zuschauer zutiefst.
Hyo-Jung Kang als Olga war zunächst – obwohl im Stück die jüngere Schwester – die fraulich erwachsenere. Im 2. Akt beschwört sie durch ihre naive Unbedarftheit und unschuldige Keckheit das Schicksal herauf, als sie Onegins kleine wie folgenschwere Intrige nicht durchschaut. Pablo von Sternenfels steigert sich ebenfalls und überzeugt als Lenski vollends in seinem Solo vor dem Duell durch seine dichte, packende glaubwürdige Emotionalität. Roman Novitzky ist ein solider Fürst Gremin, Melinda Witham eine gütige Madame Larina und Magdalena Dziegielewska eine fürsorgliche Amme. Das Corps de ballet ist hochmotiviert, das Orchester unter der stringenten Leitung von James Tuggle ebenso. – Alle, die an dieser Aufführung beteiligt sind, machen mit viel Animo diesen Abend zu einem ganz besonderen und unvergesslichen.
Die Stuttgarter wissen zu feiern und so haben sich auch diesmal die Ballettfans etwas einfallen lassen, um sich zu bedanken: es regnet unzählige kleine Blumensträußchen von allen Seiten auf die Bühne, als Sue Jin Kang den ihr geltenden Schlussapplaus, heftigen Jubel und die Standing Ovations entgegennimmt. Im anschließenden Defilee zur Polonaise aus dem dritten Akt überreichen dann alle zum Ballett gehörenden Personen wie die komplette Compagnie, die Ballettmeister, die Ballettverwaltung aber auch viele ehemalige Kolleginnen und Kollegen wie u.a. Yseult Lendwai oder Marijn Rademaker, dessen Auftritt als Armand mit Sue Jin Kang in der „Kameliendame“ eine Initialzündung für seine eigene Karriere war, je eine rote Rose. An der Bühnenrückwand erscheint ein großes Transparent mit den Worten Liebe Sue Jin danke für Alles. We love you – We will miss you. Alles Gute! und es fallen viele bunte Luftballons vom Schnürboden. Zu dem nicht enden wollenden Beifall schwenkt dann auf ein Zeichen von Reid Anderson jede und jeder im Zuschauerrund die von der Ballettintendanz initiierte Danksagung, die bereits vorab auf den Sitzen aufliegt: ein A3-formatiges Poster mit einem großen roten Herz und der Aufschrift Danke Sue Jin.
Stuttgart Ballett: "Onegin", Abschiedsvorstellung von Sue Jin Kang am 22. Juli 2016 im Staatstheater Stuttgart