Sind wir Zeuge eines Traums, in dem sich der Wanderer befindet? Oder gehört der einsame, alte Mann doch zu jenen Menschen, die auf den Stationen seines Weges lachen, tanzen, weinen, schreien und planend voranschreiten? Erwin Piplits, künstlerischer Leiter des legendären Serapions Ensembles, bleibt eine eindeutige Antwort schuldig, doch sein Publikum versetzt er in „Anagó“ in eine Parallelrealität – gleichzeitig unfassbar schön, verstörend und verzweifelnd –, aus der man mit leisen Bedauern erwacht.
Schostakowitschs Walzer aus der Jazz Suite, berühmt auch durch Stanley Kubricks letzten Film „Eyes Wide Shut“, ist auch in „Anagó“ Leitmotiv einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft. Anfangs drehen die Maskierten auf der Drehbühne ihre Runden. Nach und nach legen sie ihre Masken ab, offenbaren ihr Gesicht, ihre Mimik, brechen in unaufhaltsames Gelächter aus, tanzen in ihren viellagigen, weit schwingenden Kleidern im Dreivierteltakt. Erstarren wie in einer Szene des japanischen Nô-Theaters. Dazwischen der alte Mann (Erwin Piplits) mit dem Wanderstab, unbeteiligt, beobachtend, wie verloren im steten Treiben.
Opulente und poetische Bilder begegnen ihm auf seiner Wanderung, philosophische Gedanken in Texten von Goethe, Höderlin, Ossip Mandelstam oder Maximilian Woloschin, der in seinem Gedicht zu einem „neuen Aufruhr“ aufruft. Immer wieder taucht ein Engel auf, der in liebenswerter Entrücktheit und Verwunderung über das Geschehen in Selbstgesprächen (auf Russisch) zu räsonieren scheint. Eine differenzierte Musikcollage von Vivaldi über Fauré bis zu René Clemencic gibt die Stimmung vor, die von erzwungener Lustigkeit bis zu abgrundtiefer Verzweiflung das menschliche Psycho-Spektrum ohne Pathos reflektiert. Wenn die Ingenieure mit Messlatten die durch den Menschen - „das gefährlichste Tier von allen“ - aus den Fugen geratene Welt neu vermessen und planen ist der Untergang vorgegeben. Ihre Konstruktionen lösen sich in Einzelteile auf. Nicht durch aufwändige Bühnenbauten, sondern auf einem raffinierten Prospekt, einem Vorhang, der sich in ständiger Bewegung befindet und von einem Ort zum nächsten führt. So verwandelt sich der Hintergrund im Stil einer historischen Landkarte durch Videoprojektionen in einen farbenfrohen Herbstwald, zerfällt die futuristische Stadt in ihre Einzelteile.
„Anagó“ (das im Griechischen so viel wie aufbrechen, sich auf den Weg machen, bedeutet) ist eine geheimnisvolle wie unfassbare Theaterarbeit, die mit tiefgründiger und berührender Poesie und überwältigender Ästhetik dem Sinn des Lebens auf der Spur ist. Am Ende weicht die dunkle Grundstimmung einer gelassenen, heiteren Harmonie. Die 14 Darsteller singen den Schostakowitsch-Walzer nun selbst und tanzen zu den Klängen eines georgischen Volksliedes, diesmal in hellen Kostümen mit bunten Akzenten, beschwingt über die Bühne, als hätten sie endlich die lange ersehnte Freiheit gefunden.
Vielleicht sind diesmal die einzelnen Abschnitte besonders sorgfältig choreografiert und inszeniert. Vielleicht hat aber auch das Gedenken an die Mitbegründerin, Leiterin und Kostümbildnerin Ulrike Kaufmann, die am 19. Dezember 2014 verstorben ist, das Werk beflügelt. In jedem Fall hat das Serapions Ensemble mit „Anagó“ seinen Ruf als originellste und poetischste Theaterwerkstatt Wiens mit Nachdruck erneuert.
Serapions Ensemble: „Anagó“ im Odeon. Gesehen am 9. Dezember 2015. Weitere Vorstellungen: 15.-19., 29.-31. Dezember 2015, 5.-9., 13.-16., 20.-23., 29., 30. Jänner 2016