Jörg Weinöhl hat mit seinem ersten Ballett als Grazer Ballettchef eine beachtliche Visitenkarte vorgelegt. Für sein Dornröschen-Ballett hat er Petipa und Tschaikowsky schlicht ignoriert. Stattdessen erzählt Weinöhl das Märchen im neoklassischen Tanzstil mit modernen Einschüben zu Musik der Renaissance und des Barock. Außerdem hat er die Theatersituation umgedreht und den Blick auf das prächtige Auditorium freigegeben.
Der Zuschauerraum mit seinen weiß überdeckten Sitzen wurde zum Märchenschloss, das Publikum saß auf der Bühne, ganz nahe an Tänzern, Musikern und Sängern. Damit „erspart“ sich der Choreograf nicht nur das Bühnenbild sondern schafft auch eine Situation, in der seine 17 Tänzer in direkten Kontakt mit den Zuschauern treten. Eine mutige Entscheidung des Choreografen und eine Herausforderung für die jungen Tänzerinnen und Tänzer, von denen einige neu im Ensemble sind. Noch sieht man, wer sich das erste Mal vor diesem Publikum beweisen muss. Diejenigen, die den Enthusiasmus der Grazer bereits kennen, treten da meist selbstbewusster in Erscheinung. Doch schon im Laufe dieses ersten Auftritts beginnen sich die Unterschiede zu nivellieren, gewinnen die Neuen zunehmend an Vertrauen. Auch die Einbindung der Kinder der Ballettschule – sie wachen als eine Art „Schutzengel“ über die schlafenden Tänzer – ist ein Hinweis darauf, dass Weinöhl das Ballettrad in Graz nicht neu erfinden sondern an Bestehendes anknüpfen will.
Obwohl der neue Ballettdirektor ein relativer Choreografenneuling ist (sein Oeuvre weist bisher nur einige wenige Stücke auf), ist sein 90-minütiges Ballett in 20 Szenen schlüssig und solide aufgebaut. Der langjährige Solist von Martin Schläpfer (Ballett der Deutschen Oper am Rhein) erzählt das Märchen in stimmungsvollen Bildern, unterstützt die Handlung mit Kostümen (Saskia Rettig), die ebenso wie der Tanzstil zwischen den Epochen changieren. Der Auftritt der Feen beim Tauffest wird zu einer Modenschau en bleu. Die Stöckelschuhe scheinen das Böse zu verkörpern. Jedenfalls ist bei Weinöhl die 13. Fee (stark: Miki Wakabayashi) – mit der interessanten Bezeichnung „Fee des Unbekannten“ – nicht unbekehrbar böse, sondern lässt sich im Laufe des Balletts von der Fee der Liebe (Dylan Hoskins) eines Besseren belehren. Im Pas de deux wehrt sie sich zwar anfangs noch, doch die Stöckelschuhe sind bereits abgelegt. Sie werden bis zum Ende des Balletts auf der Bühne wie vergessen liegen bleiben, während die Fee des Unbekannten die Liebe entdeckt. Der Tanz im Spitzenschuh ist hingegen zwei Wohltäterinnen vorbehalten, der Fee des Schlafes (Dianne Grey) und der Fee der göttlichen Würde (Emily Grieshaber). Gefühle oder Situationen wie in den Szenen „Schritte der Entwicklung“, „Die Dornenhecke“, „Halbschlaf“ stellen die Tänzer in roséfarbenen Trikots dar.
Weinöhl ist ein versierter Kenner der Musik von Telemann, Bach, Händel, Vivaldi, Couperin und Zeitgenossen. Zu deren Arien, Sinfonien und Suiten trifft er choreografisch den „richtigen Ton“ und gibt der Musik Raum sich zu entfalten – unter der Leitung von Robin Engelen wunderbar gespielt und gesungen vom Orchester und Chor der Grazer Oper der Sopranistin Sieglinde Feldhofer, dem Tenor Martin Fournier.
Dornröschen und ihr Prinz sind mit Bruna Diniz Afonso und Simon Van Heddegem bestens besetzt. Die jugendliche Ausstrahlung entfaltet sich in ihrem wunderbaren Pas de deux nach dem Erwachen zu Händels „Who calls my parting soul“. Übrigens: Weinöhl verzichtet auf große dramatische Gesten. Wenn sich Dornröschen an der Spindel sticht, fällt sie ohne großes Aufhebens gleich zu Boden; wenn der Prinz in einem blauen Anzug mit zu kurzen Ärmeln und Beinen und Brille auftritt, dann ist er ein Halbwüchsiger, der zu schnell wächst und natürlich nie den Mut hätte ein unbekanntes Mädchen einfach so zu küssen. Erstaunt bleibt er vor der Schlafenden stehen, die bei seiner Ankunft einfach aufwacht.
Besonders gelungen sind die Gruppentänze, das rockende „Tauffest“, die geschäftigen „Köche“ mit den ungeschickten Küchenjungen (hier und in anderen Szenen besonders ausdrucksstark: Clara Pascual Martí) oder die Abschiedszene „Das Glück“, in der sich das Ensemble in die Tiefen des „Schlosses“ zurückzieht. Durch die Auftritte und Abgänge über die Parterrelogen oder ein auf den Rängen projiziertes Feuerwerk wird die spektakuläre Kulisse des Auditoriums immer wieder in das Geschehen mit einbezogen.
Jörg Weinöhl hat mit seinem Einstandswerk einen umfassenden Eindruck seiner choreografischen Qualitäten gegeben und mit dieser eigenständigen „Dornröschen“-Version gezeigt, wie man auch klassische Inhalte der Ballettliteratur völlig neu gestalten und dabei das Märchenhafte bewahren kann. Das Publikum ließ sich davon begeistern. Die spannende Ballettgeschichte in der Grazer Oper wird also weitergeschrieben.
„Der Liebe Schlaf. Ein Dornröschen Ballett von Jörg Weinöhl“, Uraufführung am 10. Oktober in der Oper Graz. Weitere Vorstellungen: 16., 21. Oktober, 26., 28., 29. November, 26. Dezember 2015, 3. Jänner 2016