Das Konzept der Hamburger Ballett-Tage ließ bislang wenig Spielraum für dramaturgische Veränderungen. Premiere, Repertoirestücke, Gastspiel, Nijinsky-Gala – auch dieses Jahr der übliche Programmablauf? Mitnichten! Zum Auftakt des zweiwöchigen Festivals gab es zuerst eine Aufführung des Bundesjugendballetts auf Kampnagel. Und dann in der Staatsoper eine Premiere, die eigentlich keine war.
„Infinite Identities“ heißt die Produktion, die das Bundesjugendballett zum Start in die 41. Ballett-Tage präsentierte. In dem als Kooperationswerk mit dem Musikfestival „Heidelberger Frühling“ entstandenen und im April uraufgeführten Stück setzen sich die acht Mitglieder des Ensembles sowie drei Gasttänzerinnen des Londoner Just Us Dance Theatre mit dem digitalen Wandel, mit sozialen und philosophischen Gesellschaftsfragen auseinander. Ein schwieriger Stoff für einen Tanzabend, gewiss, und nicht alles gelingt. Manches bleibt Pose und Effekt, Zitate verrinnen ungenutzt. Doch erweist sich das Bundesjugendballett auch in seiner derzeitigen Besetzung als gutes Forum für künstlerisches Austesten. Hier kann der Nachwuchs probieren und nach einem eigenen Stil suchen.
Erst einen Tag nach dieser Collage aus verschiedenen Choreographien gab es dann die eigentliche Eröffnung der Ballett-Tage auf der Bühne der Staatsoper. Und auch hier ganz ungewohnt: gezeigt wurde keine Premiere im eigentlichen Sinne, sondern eine Neufassung von John Neumeiers „Peer Gynt“. Beim Wiederhören von Alfred Schnittkes Musik sei in ihm der Wunsch entstanden, so Neumeier, das 1989 uraufgeführte Stück neu zu kreieren. „Ich bin sicher heute ein besserer Choreograph als 1989 und kann mit meinen Erfahrungen die Essenz von Ibsens Stoff treffender umsetzen.“ Schritte, Tempo, Gesamteindruck, Bühnenbild und Kostüme, alles wurde überprüft, teilweise erneuert. Darunter auch grundlegende Dinge der Inszenierung wie die Reduzierung der ursprünglichen sieben Aspekte Peers auf nur vier. Anderes indes ist geblieben, starke Bilder und Gesten, die sich einem einprägen. Aber auch manch überfrachtete Ensembleszene gibt es noch. Und Peers Latzhose sieht heute auch nicht besser aus als damals.
Besonders wichtig war Neumeier die erneute Auseinandersetzung mit der Figur der Solveig. Die Eigenständigkeit und Bedeutung dieser Rolle habe er herausarbeiten wollen. Und tatsächlich ist das hervorragend gelungen. Was nicht zuletzt an Alina Cojocaru liegt, die als Gast vom English National Ballet kommend, den Part in den ersten Aufführungen übernommen hat. Ihre Solveig ist ganz für sich. Mit der Welt da draußen, mit der Welt, in der sich Peer zurechtzufinden versucht, hat sie nichts zu tun. Zart und voll lyrisch-feiner Nuancen zeigt uns Cojocaru das Bild einer stillen Innigkeit . Als technisch perfekte Tänzerin lässt sie Schweres leicht aussehen. Jede kleine Geste, jede Bewegung setzt sie wirksam ein. Anrührend und unprätentiös. Cojocarus Solveig ist eine starke Wartende, frei und vollkommen unabhängig. Als Peers Pendant ist sie die Sesshafte, die Bleibende. Er ist der Wanderer, der Flüchtige. In Peers Charakter versammeln sich so viele Seiten, Eigenschaften, Träume und Vorstellungen. Es sind seine verschiedenen „Aspekte“; Aleix Martinez, Alexandre Riabko, Karen Azatyan und Marc Jubete verkörpern Unschuld, Vision, Aggression und Zweifel. Ihr Zusammenspiel ermöglicht überzeugende tänzerische Momente und Konstellationen, doch, ganz ehrlich, eigentlich hätte es ihrer gar nicht bedurft. Carsten Jung als Peer Gynt kann das auch allein. Seine Interpretation von Ibsens Titelfigur ist ungemein vielschichtig und variantenreich. Der erste Solist , der seit 1994 beim Hamburg Ballett ist, erweist sich wieder einmal als ein großartiger Darsteller, ein technisch versierter Tänzer ist er sowieso. Jung ist der lausbübische Sohn der gutmütigen Aase (Anna Laudere), er ist gefangen vom Zauber der ersten Begegnung mit Solveig. Er ist hart, rücksichtslos und egozentrisch im Rausch versunken, trunken vom eigenen Erfolg und Ruhm. Er ist das Opfer seiner Imaginationen, er ist Liebender und Geliebter.
Schon in „Liliom“ (2011) haben Alina Cojocura und Carsten Jung gezeigt, dass sie hervorragend harmonieren. Ein perfektes Ballettpaar. Solveig, die zu Beginn auf ihren Spitzenschuhen noch unsicher und linkisch wirkt, erlangt im Duett mit Peer eine träumerische Sicherheit, eine Eleganz, einen Sog. Zunächst gibt es viele Hebungen und Drehungen, zarte Berührungen der ersten Begegnung. Doch vor allem im großen Epilog treffen die beiden sich auf gleicher Ebene. Die Rätselhaftigkeit dieser Figuren, ihr Geheimnis spiegelt sich hier in einem stellenweise geradezu hölzernen, harten, expressiven Bewegungsgestus. Zu Schnittkes facettenreicher Musik zeigen Cojocura und Jung im abschließenden Pas de deux kein zartes Umflirren des anderen, kein inniges Werben. In diesem Teil der Komposition, der auch für Schnittke von besonderer Bedeutung war und nicht gekürzt werden durfte, finden Peer und Solveig zueinander, es entsteht ein wirkliches Zusammensein. Ein wunderbarer Gleichklang. Und ganz große Ballettkunst!
Bundesjugendballett: „Infinite Identities“ am 27. Juni 2015 auf Kampnagel Hamburg
Hamburg Ballett: „Peer Gynt“, Premiere der Neufassung am 28. Juni 2015 in der Hamburgische Staatsoper. Weitere Vorstellungen in der Spielzeit 2015/16: 30. September, 6., 8., und 11. Oktober 2015 sowie 6. Juli 2016.