Puschkin-Lektüre. Immer wieder gern gesehen: John Crankos „Onegin“, 1965 in Stuttgart uraufgeführt, gehört seit langem fest in das Repertoire des Hamburg Balletts. Zur Eröffnung der diesjährigen Hamburger Ballett-Tage hat nun auch John Neumeier das berühmte Versepos von Alexander Puschkin auf die Tanzbühne gebracht. Eigentlich eine gute Idee.
Es sei Andrea Breths Inszenierung von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ bei den Salzburger Festspielen (2007) gewesen, die sein Interesse geweckt habe, sich gleichfalls mit Puschkins Text zu beschäftigen. So John Neumeier. Breths Interpretation habe gezeigt, dass die Geschichte nicht historisch verortet werden müsse, sondern zeitlos und auch heute von Interesse und Gültigkeit sei. Bestrebt, die weibliche Hauptfigur in den Mittelpunkt zu rücken, nennt Neumeier sein Stück nun aber nicht „Onegin“, sondern „Tatjana “. Warum? „Tatjana zeigt eine Stärke, die Onegin nie erreichen wird“, so der Ballettchef. Und: „Nach mehrmaligem, sehr genauem Lesen dieses Werkes steckt in ihr die meiste Entwicklung.“ Dem mag man folgen oder auch nicht; für den Ablauf der Geschichte bleibt die Titulierung eher sekundär.
Ein Birkenwald im Schnee, zwei düstere Adjutanten laden die Pistolen. Ein Duell. Onegin erschießt Lensky, der bei Neumeier ein Komponist ist. Dann Zeitsprung zurück. Wir sehen die junge Tatjana in einem langen weißen Nachthemd, sie spielt mit einem großen Teddy, wirft ihn in die Luft, rollt unbeschwert mit ihm über den Boden. Danach vertieft sie sich aber doch lieber wieder in ihren Roman. Denn Neumeiers Tatjana ist vor allem eines: eine Lesende. Ihre Romanfiguren sind um sie herum, treten sogar als weiß gekleidete und gepuderte Figuren mit auf. Die Magie des Lesens. Über ihre Lektüre erfährt Tatjana, was außerhalb ihrer Erfahrung liegt. Ihre Vorstellung von der Welt findet sich hier begründet.
Neumeier erzählt uns die Geschichte von der Liebe des Landmädchens Tatjana zum hochmütigen Dandy Eugen Onegin, indem er ganz nah an Puschkins Text bleibt, geradezu pflichtbewusst. Seine Choreographie ist verschachtelt, komplex, vielfach aber auch angestrengt und überfrachtet. Zahlreich sind die Zitate und Anspielungen. Dem eigentlichen Tanz, dem Bewegungsvokabular tut das nicht gut. Ein altbewährter Gestus, bekannte Wiederholung. Routiniert abgespult und vielfach erprobt. Vor allem in dem ersten der beiden Akte fehlt es den Tänzern an Raum zur Entfaltung und Zeichnung ihrer Charaktere. Es gibt kaum Szenen mit reduziertem Personal, keine längeren Soli oder Pas de deux. Ständige Wechsel, Gewusel, Partyszenen, die weniger dekadent als dekorativ wirken.
Im zweiten Teil ändert sich das. Ein hauchzarter, angedeuteter Pas de trois zeigt uns, wie sich Tatjana zwischen ihrem späteren Gatten, dem Prinzen N., und Onegin fühlen muss, wie sie sich positioniert. Technisch absolut makellos, gelingt es Hélène Bouchet als Tatjana, Edvin Revazov als Onegin und Carsten Jung als Prinz N., ihren Figuren Kontur und Intensivität zu verleihen. Auch ermöglicht Neumeier im zweiten Akt Pausen, stillere Momente. Tatjana am Fenster sitzend, versonnen in eine vor uns verborgene Ferne blickend. Wir kennen das aus der Kunstgeschichte. Vermeer zum Beispiel und auch der dänische Maler Vilhelm Hammershoi haben sie immer wieder gemalt, die geheimnisvollen Frauen, die versunken sind in einem Buch oder die uns den Rücken zukehren, um aus dem Fenster zu schauen. In den gelungenen Szenen dieser Inszenierung spiegelt sich das Geheimnis solcher Darstellungen.
Neumeiers Bühnenbild zeigt reduzierte, aufgeräumte Interieurs. Drei drehbare Räume lassen sich zu Ausschnitten in einer großen Fläche verwandeln, kleine Gemälde in malerischem Licht.
Die Musik indes lässt solch ruhigere Sequenzen nicht immer zu. Mitunter durchaus virtuos und spannend, vermag die polystilistische Komposition von Lera Auerbach die dramatischen Höhepunkte oftmals kaum herauszuarbeiten. Das vielfache Aufgreifen derselben Motive bestimmt das Werk der russisch-amerikanischen Komponistin, mit der Neumeier bereits in „Préludes CV“ (2003) und „Die kleine Meerjungfrau“ (2007) zusammengearbeitet hat. Dass Neumeier die Proben allerdings allein auf Grundlage der Klavierauszüge gestalten musste, da die Partitur für das Orchester erst zwei Wochen vor der Uraufführung vorlag, merkt man dem Stück nicht an. Im Gegenteil. Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Simon Hewett erweist sich als bestens eingespielt.
„Tatjana“ ist eine Koproduktion mit dem Stanislavsky und Nemirovich-Danchenko Musik-Theater Moskau. Premiere dort ist am 7. November 2014
Hamburg Ballett: „Tatjana“, Uraufführung am 29. Juni 2014 in der Hamburgischen Staatsoper. Weitere Aufführungen in Hamburg: 10. Juli 2014; 11., 14., 20. November 2014; 26. Mai 2015; 3., 4., 5., 6. Juni 2015; 2. Juli 2015
Hamburger Ballett-Tage bis 13. Juli 2014