Ganz neu klingen die 24 Lieder der „Winterreise“, die Vertonung von Gedichten Wilhelm Müllers durch Franz Schubert, in der großen Halle des Museumsquartiers während der Wiener Festwochen. Nicht nur weil Bariton Matthias Goerne am Klavier von Markus Hinterhäuser begleitet, singt sondern auch und vor allem, weil William Kentridge die Zwiesprache zwischen Pianisten und Sänger mit Bildern, seinen Bildern, hinterlegt, ausleuchtet, anreichert.
Unaufdringlich. Kentridge – ihn eingeladen zu haben, noch so ein Geniestreich des Festwochenteams unter Markus Hinterhäuser – hört den Liederzyklus, arbeitet mit dem Pianisten Hinterhäuser, kramt in alten Zeichnungen und Filmen und fügt Musik und Text eine dritte Ebene hinzu. Und die führt mich weit weg von dem romantischen, selbstverliebten Gewimmer eines verlassenen Liebhabers. Tut mir leid, nie mehr werde ich die „Winterreise“ zur wohligen Erbauung hören können. Die herben Bilder von schattenhaften Todesmärschen, von Stacheldraht, Folter und Blut – dazwischen immer wieder eine nackte Frau, wie es halt so kommt, wenn die Gedanken ungeordnet fließen – machen diese Lieder tatsächlich, wie der Komponist einst festgestellt hat, „schauerlich“.
Kentridge droht nicht, hat auch nicht die Absicht zu erschüttern oder zu politisieren, er lässt seinen Gedanken freien Lauf, träumt, während er die Musik hört, holt Zeichnungen und Filme aus seinem reichen Archiv, setzt sie neu zusammen, und verblüfft durch die perfekte Animationstechnik. Eine ganz andere Winterreise entsteht, gefühlvoll gleichwohl, doch nicht ohne Humor und durch die spezielle Technik der Metamorphose Kentridges (konkret gezeichnete Objekte, Personen, Muster verwandeln sich wie durch Zauberhand in etwas neues Konkretes oder Abstraktes) auch eine Auseinandersetzung mit der Zeit, die so flüchtig ist, und dem Schein, der so trügerisch.
William Kentridge, ob er mit Oper unterhält oder mit einer „Drawing Lesson“ oder ein Installation präsentiert, ist immer ein Gewinn. In der aktuellen Prodouktion (gemeinsam mit mehreren Festivals in F, NL, D, LU und auch New York) erlaubt er dem schier unantastbaren heiliggesprochenen Monument aller Schöngeister, sich zu öffnen, neue Gedanken einzulassen und über den Kultstatus hinauszuwachsen. Nur schön, auch nicht schaurig-schön ist diese Winterreise für mich nicht mehr hörbar. Die Zahl der Konserven dieser Reise hat wohl ohnehin die 100 bereits überschritten. Von Richard Tauber, 1927 bis Jonas Kaufmann, 2014 hat sich die Tonträgerindustrie die Liebe der Sänger (und seit mit Christa Ludwig auch weibliche Stimmen der Melancholie und Hoffnungslosigkeit Gesang geben) auch der Sängerinnen zunutze gemacht und das schön Schaurige ins traute Heim gebracht. Immer wieder darf man ins Schaumbad steigen. Mit der „Inszenierung und visuellen Konzeption“ des südafrikanischen Künstlers ist das nicht möglich. Der Konserve dieses dreidimensionalen Musik-Gesang-Bildwerks würde der Atem fehlen. Den hauchten in der Vorstellung Snezana Marovic am Video-Editor und Kim Gunning am Video-Operator ein. Ach ja, Matthias Goerne und Markus Hinterhäuser im Gespräch nach Noten. Mal hört man konzentriert zu, mal haben die Augen den Vorrang, dann wieder verschmelzen Bilder und Musik zur Einheit. Eulen nach Athen zu tragen ist nicht notwendig. Eine Goerne-Konserve als Mitschnitt des Londoner Konzertes mit Alfred Brendel von 2003 dient dem Nachhören; die Notenvergabe für Gesang und Spiel bleibt der Kennerschaft der Musikkritiker überlassen.
Das Experiment ist jedenfalls gelungen. So gut gelungen, wie die Wiener Festwochen 2014.
Franz Schubert / William Kentridge: „Winterreise“, 15. Juni 2014, Museumsquartier im Rahmen der Wiener Festwochen 2014.