100 Jahre „Sacre du Printemps“! Diesem Jubiläum der Musik- und Tanzgeschichte kann sich auch der Tänzer und Choreograf Akram Khan nicht entziehen. Mit „iTMOi (in the mind of Igor) will er dem Komponisten seine Referenz erweisen. Allerdings ohne sich auf seine Musik zu beziehen. Im Tanz jedoch bricht immer wieder das archaische Ritual durch, stampft die Gruppe rhythmisch über die Bühne. Ein Frühlingsopfer, eher in the mind of Vaslav denn of Igor.
Im Geiste Igors. Khan arbeitet mit einer internationalen Besetzung eigens für das Stück ausgesuchter Tänzerinnen und Tänzer unterschiedlicher Ausbildung. Sie alle sind an der Choreografie beteiligt, erst am Ende des Probenprozesses hat der Choreograf eingegriffen. So muss hingenommen werden, dass die Performance keinen wirklich stringenten Zusammenhalt hat. Mithilfe der fantasievollen Kostüme, entworfen von Kimie Nakano, einer bewährte Mitarbeiterin Khans, lässt sich jedoch ein Personal und dadurch auch eine Geschichte identifizieren. Da ist eine unnahbare Göttin, mit entblößter Brust in einem weißen Reifrock steckend. Klar und platt: darunter kann sich einer verstecken und als ein anderer wieder geboren werden. Ein Mann in Schwarz, könnte der Büttel der Stolzen sein, ein Mädchen im weißen Kleid die zu opfernde Jungfrau. Das Volk beugt Knie und Rücken, erhebt die Arme zum Gebet, tanzt und stampft, tobt zu elektronischen Geräuschen, wiegt sich sanft zu sphärischen Klängen. Oben im Bühnenhimmel schwebt eine goldene Kugel, die sich am Ende senkt und zum gefährlichen Pendel wird. Ich habe ein Déjà-vu. Auch das sich hebende und senkende Gitter, das den Himmel von der Erde trennt, kommt mir bekannt vor.
Sei’s drum. Ich sehe also ein archaisches Ritual, bei dem aber keine Jungfrau geopfert wird, sondern die Göttin ihr den ausladenden weißen Spitzenhut aufs Köpfchen drückt und sich samt ihrem eifrigen Diener zurückzieht. Nicht einordnen kann ich das wunderbare Tier, das in geschmeidigen Bewegungen den Bühnensaum entlang kriecht. Es mischt sich nicht ein ins Geschehen, ist einfach da und schön. Ein Insekt vielleicht mit langen Fühlern, ein Fabelwesen aus längst vergangenen Zeiten.
Fabelhaft ist auch das Lichtdesign von Fabiana Piccioli, seit 2005 Technikchefin der Akram Khan Company und bereits bei früheren Produktionen für das Licht verantwortlich. Von strahlendem Weiß über giftige Grün bis zu düsterem Braun (samt reichlichen Einsatz der Nebelmaschine) schillert das Areal in dessen Mitte wie weiße Göttin Befehle erteilt und reglos Huldigungen entgegennimmt. Das Bacchanal wird gefeiert, die Jungfrau überlebt. Unter dem Rock der weißen Göttin kriecht ein mehrfach an roten Schnüren hängendes und von Folterknechten herumgeworfenes ekelhaftes Wesen hervor. Am Ende stürzt die Sonne vom Himmel. Möglicherweise ist es aber doch nur eine gelbe Kugel oder doch eine Metapher für den Erzengel mit dem Schwert? Ich sehe Adam und Eva aus dem Paradies in die Welt hinaus gehen. Der Rest ist Schweigen
Interpretiere ich Akram Khans Worte – „Ein Riss im Geist, ein Tod im Körper und eine Geburt in der Seele, alles erinnert uns, dass Fantasie und Imagination wild und sich selbst generierend sind“ – richtig, so ist dieses in Fesseln liegende verknäuelte Wesen die Fantasie oder der Geist oder die Kunst. Akram Khan greift hoch, es geht ihm um die „Erkundung der Conditio humana“, die Bedingungen des Menschseins.
Tripelpunkt der Musik. Weil Strawinsky trotz allem anwesend sein soll, wie es der Titel und auch die begleitenden Worte des Choreografen fordern, noch einmal zurück zur Musik, die ein wesentlicher Bestandteil des Spektakels ist, es gleich dem Licht im innersten zusammenhält. Dass der Klangraum von drei unterschiedlichen Komponisten gebaut worden ist – Nitin Sawhney (vornehmlich als Filmkomponist arbeitend), Jocelyn Pook (englische Komponistin und Geigerin, Filmmusik für Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut“), Ben Frost (in Island lebender australischer Komponist experimenteller Musik, einer Mischung aus Minimalismus, Post-Punk und Geräuschen) –, die einander während des Kompositionsprozesses nicht sehen durften, ist trotz der unterschiedlichen Tonsequenzen nicht wirklich zu erkennen. Nahtlos verschmelzen die elektronischen Klänge mit zarten Geigentönen, die harten Beats mit schmeichelnder Folklore. Strawinsky hätte sicher seine Freude daran.
Und ich habe meine Freude an exzellentem Tanz, mit Einflüssen des rasend schnellen indischen Kathak, religiösen Riten und Folklore. Das Ensemble (elf Tänzerinnen und Tänzer) leistet teilweise akrobatische Schwerarbeit und jede(r) Einzelne zeigt in großartigen Solos die hohe Klasse. Dass mir letztlich das reichlich mit Pathos garnierte Stück als gelungene Mischung aus kanadischem Cirque du soleil und Wiener Serapionstheater erscheint, tut meiner Begeisterung keinen Abbruch.
Akram Khan Company: „iTMOi ( in the mind of Igor)“ im Rahmen von ImPulsTanz, 20. Juli 2013, Museumsquartier.
Weitere Vorstellungen: 22., 23. Juli.