Entstanden ist zu Lera Auerbachs ebenso fragiler wie wuchtiger Musik ein „choreographisches Skizzenbuch“, das menschliche Situationen und Emotionen abbildet, ohne einen eindeutig lesbaren erzählerischen Rahmen. Ein für sich erst einmal abstraktes Ballett, das aber auch Handlungsassoziationen anbietet. Der Zuschauer kann sich selbst eine Erzählebene schaffen. Oder, wenn er mag, nach der Vorstellung jenen geheimnisvoll verschlossenen Teil des Programmheftes öffnen, in dem Neumeier seine Sicht und mögliche Interpretationen des Gezeigten erläutert.
Bezeichnet mit den Vornamen der Tänzer der Uraufführung sind es Charakter- und Figurenskizzen, die als Rollen entworfen werden. Es geht um menschliche Gefühle und Beziehungen. Um Anziehung und Ablehnung, Verletzung und Begehren. Um Träume, Wünsche und Phantasien. Das Präludium, die musikalische Einleitung, ist hier auch ein ständiges Vorbereiten auf die Liebe. Ein Versuch, zusammen zu kommen, einander zu verstehen.
Einige der heutigen Solisten standen bereits bei der Uraufführung des Stückes 2003 auf der Bühne. Silvia Azzoni, Alexandre Riabko, Carsten Jung und Lloyd Riggins tanzten schon damals die nach ihnen benannten Figuren. Doch viele Partien mussten natürlich neu besetzt werden. Und genau das macht den Reiz dieser Wiederaufnahme aus. Zum einen zeigt sie die Entwicklung der damaligen Protagonisten. Zum anderen ermöglicht sie eine spannende Auseinandersetzung der neuen Tänzer mit den Vorgaben und Szenen. Um nur einige zu nennen: Hélène Bouchet tritt als Heather (Jurgensen) auf, Patricia Tichy und Carolina Agüero als Elisabeth (Loscavio), Silvano Ballone als Peter (Dingle), Anna Laudere als Laura (Cazzaniga) und die in Hamburg ihr gelungenes Debüt gebende Florencia Chinellato als Anna (Polikarpova). Ensemble wie Solisten zeigen sich dabei von ihrer besten Seite und präsentieren dieses nicht immer leicht zugängliche Stück in ästhetischer Harmonie, technischer Perfektion und darstellerisch überzeugend.
Am Beginn ist die von Neumeier selbst entworfene Bühne noch stark begrenzt, eng an Rampe und erster Reihe finden die Eingangsszenen statt. Doch dann öffnet sich der Raum nach hinten. Er bleibt dunkel und schlicht, allein ein nach vorne offener, durch Lichtröhren umrahmter Kasten bündelt die tänzerische Energie mitunter in sich. Und vielleicht noch stärker als die Bühne sind es die Kostüme (auch sie von Neumeier), die die dramaturgische Struktur des Stückes unterstreichen. Sie sind zurückhaltend und semantisch zugleich.
Die Musiker sind mit auf der Bühne. Der Dialog von Musik und Tanz wird dadurch sehr intensiv und poetisch. So zum Beispiel als die Tänzerin Florencia Chinellato sich zart und vorsichtig an die Schulter des Geigers lehnt. Gemeinsam mit der Cellistin Ani Aznavoorian ist Lera Auerbach selbst am Klavier zu erleben. Im zweiten Teil spielen, gleichfalls großartig und vielschichtig angelegt, Vadim Gluzman die Violine und Angela Yoffe das Klavier. „Ich war von Lera Auerbachs Musik bewegt und habe mir, ohne viel nachzudenken, Tänzer ausgesucht, die ich in dieser Musik `gehört` habe“, so sagt John Neumeier, der auch bei seiner „kleinen Meerjungfrau“ mit der vielfach preisgekrönten Komponistin zusammengearbeitet hat. Es ist beeindruckend, wie es ihm gelungen ist, die so verschieden temperierten Musikstücke in ein variationsreiches, freies Bewegungsvokabular umzusetzen. Selten so ausgeprägt wie hier zeigt sich Neumeier am zeitgenössischen Tanz orientiert, bleibt seinem eigenen Stil aber dennoch treu. Seiner choreographischen Kreativität bietet diese Musik viel Raum zum Experimentieren.
John Neumeier „Préludes CV“ in der Hamburgischen Staatsoper vom 8.1.2013. Weitere Vorstellungen am 11.,12. und 13. Januar sowie im Rahmen der Hamburger Ballett-Tage am 29. Juni, www.hamburgballett.de