Stimmig und stimmungsvoll. Mit John Crankos „Onegin“ präsentierte das Hamburg Ballett am 2. Dezember die einzige Premiere dieser Spielzeit. Und das hat gute Gründe. Denn zum 40-jährigen Jubiläum seiner Compagnie möchte John Neumeier an die Anfänge seiner eigenen Karriere in Stuttgart erinnern, an die zentrale Bedeutung, die Cranko für seine künstlerische Entwicklung zukommt. Eine Hommage.
Mit Marcia Haydée und Ray Barra in den Hauptpartien hat Cranko Alexander Puschkins Versroman (1833) erstmals 1965 in Stuttgart choreographiert. Zwei Jahre später überarbeitete er das Werk noch einmal und in dieser Fassung wurde es zum weltweit erfolgreichsten Handlungsballett in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Allein vom Stuttgarter Ballett wurde es mehr als 500 mal getanzt. In Hamburg ist das Stück nach seiner Erstaufführung 1984 nun in einer von den beiden ehemaligen Stuttgart-Tänzern Jane Bourne und Tamas Detrich geleiteten Neueinstudierung zu sehen. Und wieder und immer noch funktioniert dieses Ballett; die Geschichte zieht den Zuschauer in ihren Bann. Unerwiderte Liebe, ein Duell in Nebelschwaden, späte Einsichten und verzweifelter Verzicht – all diese Grundkomponenten der Handlung machen die Bühne der Hamburger Staatsoper zu einem aufregenden Ort.
Nicht als affektierter, eitler Dandy kommt Alexandre Riabkos Onegin daher, er wirkt vielmehr versonnen, kühl, sich selbst genug. Vielleicht verliebt sich Tatjana deshalb in ihn. Denn auch sie wird von Silvia Azzoni als eher ernstes, fast sprödes junges Mädchen dargestellt. Lenski, Onegins Freund, und Tatjanas Schwester Olga bilden einen klar herausgearbeiteten Kontrast dazu. Leslie Heylmann und Thiago Bordin geben dem verliebten Paar eine schwungvolle, leichte Note. Wunderbar weich in der Bewegung folgen sie der musikalischen Linie. Bordin glänzt bei den anspruchsvollen Sprüngen und Drehungen. Die leidenschaftliche Liebe, die er zu Olga empfindet, und später seine nicht weniger leidenschaftliche Eifersucht bringt er überzeugend zum Ausdruck. Und auch die Ensembleszenen, von Cranko perfekt in den Erzählstrang eingefügt, bestechen durch Eleganz und Harmonie. Vor allem die schwierigen Schrittfolgen, Hebungen und Würfe, zum Beispiel im ländlichen Reigen, gelingen hervorragend. Die Bühne, gestaltet von Jürgen Rose, der nicht nur mit Cranko, sondern später auch vielfach mit Neumeier zusammengearbeitet hat, bildet einen üppigen, farblich klar konzipierten Rahmen. In Kooperation mit dem Royal Ballet London wurde das Bühnenbild für diese Produktion neu erstellt.
Ernst und zurückgenommen wie Azzonis Tatjana schon im ersten Teil wirkt, scheint der Schritt zur Frau an der Seite des Fürsten Gremin gar nicht mehr so weit. Carsten Jung als Fürst schreitet würdevoll umher, Tatjana passt sich ihm und seiner prunkvollen Umgebung an. Doch als Onegin auftaucht und um die einst Verschmähte wirbt, gerät sie ins Schwanken. Silvia Azzoni, technisch eine makellose Tänzerin, erweist sich in der Rolle der Tatjana einmal mehr als Charakterdarstellerin. Im dramatischen Finale macht sie das Sehnen ihrer Figur nach der großen Liebe fühlbar. So nah erscheint das Erträumte und doch ganz unmöglich. Auch in ihrer Entscheidung gegen Onegin bleibt Azzonis Tatjana in ihren Emotionen zerrissen. In Alexandre Riabko hat Azzoni einen geschmeidigen, eleganten Partner. Kleine, feine Gesten in seiner Rolleninterpretation sind es, die den Zuschauern den fragilen Seelenzustand, die Unruhe und Gereiztheit seiner Figur nahebringen. In den großen Pas de deux harmonieren die beiden ausgezeichnet. Einfühlsam gelingt es ihnen, den Figuren Kontur zu verleihen, Umbrüche und Irritationen zu gestalten. Widerstrebende Impulse werden sichtbar: Anziehung und Ablehnung, Leidenschaft und Vernunft.
Unterstützt werden die Tänzer dabei bestens von James Tuggle, dem musikalischen Leiter des Stuttgarter Balletts. Die von Kurt-Heinz Stolze arrangierten Tschaikowsky-Kompositionen lässt er von den Hamburger Philharmonikern in den dramatischen Szenen in einem erstaunlich rasanten Tempo spielen. Doch er gestaltet auch wichtige Pausen, die den Tänzern die Möglichkeit bieten, den psychologischen Entwicklungen ihrer Figuren Raum zu geben.
Ein großartiger Ballettabend. Diese Neueinstudierung des Klassikers ist rundum gelungen.
Hamburg Ballett: „Onegin“ am 2. Dezember 2012 an der Staatsoper Hamburg. weitere Vorstellungen: 7., 10., 12. und 16. Dezember 2012