Auch bei der zweiten Vorstellung machte dieser „Nussknacker“ dem Wiener Staatsballett zu schaffen. Natalie Kusch war eine bezaubernde und charmante Clara – und den gelegentlichen Patzer verzieh man ihr angesichts der schwierigen Choreografie gerne. Als ihr Partner macht Denys Cherevychko die Rolle des Prinzen zu schaffen, und seine siegessichere Attitude ist respektierlicher Bescheidenheit gewichen. Das Wiener Staatsopernorchester sorgte unter der Leitung von Paul Connelly wieder für ein ungetrübtes musikalisches Vergnügen.
Die Beziehung zwischen Clara und ihren Geschwistern ist bei Natalie Kusch (Clara), Richard Szabó (Fritz) und Maria Alati (Luisa) weniger angespannt als bei der Premierenbesetzung. Clara ist keine zickige Pubertierende, sondern reagiert gutgelaunt auf die Hänseleien ihrer Geschwister. Auch wenn sie bei den Drehungen im Grand Pas de deux stellenweise die Orientierung verliert, so findet sie doch einen gelassenen Ansatz für ihre Variationen – nichts ist übereilt oder geschusselt. Natalie Kusch bereitet sich sorgfältig auf die schwierigen Figuren vor und meistert diese auch souverän. Denys Cherevychko ist als Drosselmeyer ein gebrechlicher Alter, den eine mysteriöse Aura umgibt, und auch als Prinz bleibt er gegenüber Clara väterlich-beschützend. In seinen Solovariationen fegt er wie gewohnt temperamentvoll über die Bühne, aber die Hebefiguren im Grand Pas de deux wollen noch nicht ganz gelingen.
Die inhaltlichen Schwächen des Balletts sind an dieser Stelle schon anlässlich der Premierenbesprechung erwähnt worden. Dazu kommt, dass Rudolf Nurejew bei seiner Version des „Nussknacker“ die Schwierigkeitsschraube nach oben festgezurrt hat – nicht unbedingt zum Vorteil des Balletts. Klar, die Wiener Tänzerinnen und Tänzer werden die trickreichen Tänze im Laufe der Zeit sicherlich immer besser meistern. Doch ob aus dem hektischen Getrippel und Gezappel am Ende überhaupt ein runder (Blumen- oder Schneeflocken-)Walzer herauskommen kann, wage ich zu bezweifeln. Einerseits.
Andererseits ist dieser „Nussknacker“ bei aller Kritik ein grandios-funkelndes Fest, bei dem auch sehr Vieles sehr gut gelungen ist. Etwa die Divertissements, die jeweils kleine Geschichten erzählen. So stellt der Arabische Tanz einen Scheich mit seinem Harem dar. Kernstück ist ein wunderbarer Pas de deux, der bei der Premiere von Ketevan Papava und Eno Peci sexy und lasziv getanzt, und von Dagmar Kronberger und Alexandru Tcacenco in der zweiten Vorstellung elegant angelegt wurde. Sehr viel Schwung brachten am 12. Oktober Raffaela Sant’Anna und Ryan Booth im Russischen Tanz über die Rampe sowie Davide Dato, Marat Davletshin und Trevor Hayden als munter-akrobatische Chinesen. Die Kinderszenen fordern zwar durchaus auch die Kleinen, sind aber kindgerecht inszeniert (und von Natalie Aubin sehr gut einstudiert). Die Ausstattung und Kostüme ganz im Stil des 19. Jahrhunderts vermittelt märchenhafte Atmosphäre und lassen weihnachtliche Stimmung aufkommen (ja, auch schon im Oktober).
In jedem Fall ist Nurejews Fassung nach den vorangegangenen, eher verunglückten „Nussknackern“ (von Renato Zanella im Jahr 2000 und Gyula Harangozo 2007) eindeutig ein Gewinn für das Repertoire des Wiener Staatsballetts.
„Der Nussknacker“ am 12. Oktober 2012 in der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen: 15. und 26. Oktober, 23., 25., 27. und 28. Dezember 2012