Elio Gervasi verfolgt die Spuren rückwärts, versucht das Vergessene wieder zu finden und das Erinnerte fest zu halten. Vier Tänzerinnen und drei Tänzer wecken gemeinsam, zu zweit und allein nicht nur die eigenen sondern auch die Gefühle der an einer beeindruckenden Vorstellung Teilnehmenden.
Emotionale Spurensuche. Auf sandfarbenem Grund bewegen sich TänzerInnen der Company von Elio Gervasi auf ihren eigenen Spuren zurück, aber auch nach vor. Immer wieder brechen manche aus der anfangs geschlossenen Gruppe aus, gehen ihren eigenen Träumen und Erinnerungen nach, in Solos und Duos, während die anderen rund um den sandigen Grund weitermarschieren. Zur Musikinstallation (ein pulsierendes Rauschen, rhythmisches Rieseln und sanftes Rauschen) von Albert Castello finden die sieben TänzerInnen ein gemeinsames Tempo, das zuweilen einer Trance gleicht. Hektik kommt nicht auf in dieser schönen, den ganzen Bühnenraum des Odeon ausmessenden Choreografie, auch wenn es immer abrupte, schnelle Bewegungen gibt und die Begegnungen nicht immer liebevoll sind.
Die Spuren, die wir hinterlassen, die Gefühle die bleiben, auch wenn die auslösenden Ereignisse nicht mehr rekonstruierbar sind, beschäftigen Gervasi schon längere Zeit. Schon mit der Arbeit „Tracce-in“ („Spuren – in“, uraufgeführt 2011 im Rahmen von Odeon Tanz III) folgte er mit seiner Compagnie den Spuren längst verlassener Wege. Indem er als ordnender Choreograf und die Tänzerinnen als Mitwirkende das tun, legen sie auch wieder neue Spuren an. So kann auch die aktuelle Choreografie, schlicht „Erinnern und Vergessen“ benannt, gesehen werden, als neue Spur im Sand des Erinnerungsprozesses. Deshalb wurden im ImPulsTanz Special beide Stücke im überfüllten Odeon an zwei Abenden hintereinander gezeigt, wobei die aktuelle Spurensuche dichter und konzentrierter ist. Woran sich die Tänzerinnen erinnern, wonach sie suchen, was sie vergessen haben, erscheint beim Betrachten der klaren und feinst durchdachten Choreografie, unerheblich. Die privaten Erinnerungen des Ensembles animieren zum Graben im eigenen Gedächtnis, zum Hervorholen eigener Gefühle. Das ist es, wass Tanz, wie Musik zum Sehen, kann.
Gervasi hat mit Magdalene Jankowska, Leonie Wahl, Yukie Koji, Sara Canini, Patric Redl, Raymond Liew und Jin Pin ein exzellentes Ensemble zusammengestellt und tanzt auch selbst, oft als Impulsgeber der Gruppe, mit. Das karge Bühnenbild von Ricardo Cosendey (Licht: Markus Schwarz) sieht nur eine hölzerne Stele vor, die als Totem und Schwebebalken, als Werkzeug und Waffe eingesetzt wird, die meiste Zeit jedoch einfach als Akzent auf der Bühne steht. Wie ein japanischer Zengarten mutet mitunter die geometrische Aufteilung der Tänzer auf dem Sand (täuschend illusionistisch der von einem roten Pfad umrandete helle Papierteppich) an und wenn die Tänzer und Tänzerinnen am Ende allmählich unter dem Sandberg verschwinden und nur Gervasi am Rand in Buddha-Haltung sitzen bleibt, während er mit den Händen unmerkliche Tai-Chi-Bewegungen macht, ist klar: Erst die Erinnerung macht den Menschen zum Menschen.
Tanz Company Gervasi: „Erinnern und Vergessen“, ImPulsTanz Special im Odeon, 28. September 2012.