Ko Murobushi, einer der letzten Vertreter des Butho-Tanzes, ist als Tänzer und Workshopleiter häufiger Gast beim ImPulsTanz Festival. Gemeinsam mit der Sängerin Dorothée Munyaneza und den Musikern Alain Mahé und J-F. Pauvros begibt er sich für das Festival 2011 mit der Uraufführung „Mu(s) – Krypt Blues“ auf die Suche nach dem „Nichts“. Eine so beeindruckende wie unzugängliche Performance.
Schabende Geräusche im Dunkeln. Die Sängerin Dorothée Munyaneza schrammt mit einem Stein rhythmisch über ein Holzbrett, als würde sie Körner zermalmen. Der Gitarrist Jean-François Pauvros verstärkt das Geräusch und auch Alain Mahé mischt sich elektroakustisch ein. Aus dem Hintergrund taucht Ko Murobushi auf und umarmt ein Mikrophon. Seine Atemgeräusche und aus der Kehle dringende seltsame Laute lassen die anderen Geräusche verstummen. Murobushi gurrt und kräht, schnarcht und stöhnt, kreischt und heult, die Musiker verstärken den hörbaren Schmerz dieses schwarz gekleideten Menschen zum Orkan.
Er ist auf der Suche nach einem „anderen Nichts“ und begibt sich „hinunter in die Krypta", um diesem Nichts (oder der Nichtigkeit?) zu begegnen. Dabei fragt sich der Tänzer und Choreograf, ob es nur ein einziges Nichts gibt. Um sich von dieser Frage zu entfernen, möchte er gemeinsam mit den MusikerInnen eine neue Sprache finden, damit sie „einer dem anderen zur neuen Stimmen werden können“. So weit die Erklärung im Programmheft.
Butoh, eine Antwort japanischer Tänzer und Choreografen (als Väter gelten Kazuo Ono und Tatsumi Hijikata, Murobushi ist ihr legitimer Erbe) auf die Amerikanisierung in Japan und auf die strengen Regeln japanischer darstellender Kunst, ist in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden. Tanz im eigentlichen Sinn ist Butoh nicht, eher ein Bewegungsablauf des Körpers, aller Muskeln, Sehnen und Fasern. Für Butoh gibt es keine Regeln, die erstellt sich jeder Tänzer und jede Tänzerin selbst, in dem er / sie sich vom inneren Erleben, von Gefühlen und Vorstellungen leiten lässt. Die Verwandtschaft mit dem deutschen Ausdruckstanz der 1920/30er Jahre ist recht deutlich. Der Butoh Solist bewegt sich meist nackt, oft mit weiß bemaltem Körper, kahl rasiertem Kopf in verdrehten, oft verkrampft wirkenden Posen. Butoh wird gern auch „Tanz der Seele“ oder „Tanz der Finsternis“ genannt und hat weder Leichtigkeit noch Fröhlichkeit in sich. Heute haben Elemente des Butoh in viele Choreografien Eingang gefunden, doch die Hochblüte des Butoh-Tanzes in Europa ist in den 1990er Jahren zu Ende gegangen.
Murobushi ist in der neuen Choreografie bekleidet und kann sich, aus Rücksicht auf die drei MitspielerInnen, nicht ungebremst der Improvisation hingeben. Das Stück ist konstruiert und festgeschrieben und wechselt im einfühlsamen Lichtdesign von Krisha Piplits von meditativer Zartheit zu exzessivem groteskem Gelärm. Wie im Butoh üblich, sind die Bewegung angespannt und spasmisch, mit verbogenen Gliedmaßen rollt der Tänzer über den Boden, schlägt auch mit dem Kopf auf einem Stein, wickelt sich ein wie ein Fötus. Diesmal allerdings „tanzt“ Ko Murobushi weniger, er konzentriert sich auf die Stimme, die oft allzu laut in der neuen unartikulierten Sprache tönt. Im zweiten Drittel der 60 Minuten begeistert die Choreografie mit einer ästhetischen und entspannten Szene. Murobushi versucht mit einem eiförmigen großen Stein in Wettstreit zu treten, ihn wie einen Kreisel drehen und tanzen zu lassen, ihn weg zu rollen um ihn wieder einzufangen, bis er den glatten Kiesel schließlich als Kopfpolster für eine Ruhepause heranzieht.
Die Sängerin, die immer wieder versucht Murobushis Bewegungen als Spiegelbild zu imitieren, legt sich zu ihm. Kopf an Kopf ruhen beide gelöst auf dem harten Untergrund, nur das leise Klicken kollernder Steine ist zu hören. Ein großartiger Moment – ein wunderbarer Schluss. Doch der ist den Zuschauern nicht gegönnt. Kaum haben sie Atem geschöpft wird der Moment durch ohrenbetäubende Geräusche, durch Tierlaute und kreischenden Gesang zerstört. Nur allmählich werden das unmenschliche Geschrei und der wüste Lärm von der Finsternis verschluckt. Wurde das "andere Nichts“ gefunden? Pflichtschuldig spendet das Publikum seinen Applaus – und bleibt ratlos.
"Mu(s) – Krypt Blues", Ko Murobushi & J-F. Lauvros, Alain Mahé, Dorothée Munyaneza, Uraufführung im Rahmen von ImPulsTanz, Odeon, 3. August 2011