Phantasievolle Kostüme, mythologische Geschichten und ethnologisch inspirierte Choreographien sind seit langem das Markenzeichen von Marie Chouinard. Mit „The Golden Mean (Live)“ – zu Gast bei Impuls Tanz 2010 – schrammt die beliebte Choreographin nur knapp am Abgrund zur ästhetisch exquisiten, aber dramaturgisch schwachen Banalität vorbei.
Dabei legt der Beginn zunächst eine ganz andere Stimmung nahe - aufwärmende Tänzer in Trainingsklamotten empfangen das Publikum, das teilweise links und rechts auf der Bühne seinen Sitzplatz findet. Einige überdimensionale Stehlampen sind die einzige Dekoration, dazu fünf Videomonitore. Von der Bühne weg führt eine Rampe in den Saal hinein und erinnern an den Steg im japanischen No-Theater.
Doch dann sind plötzlich zwei in edle Stoffe gewickelte Menschen da und schälen sich aus der Umhüllung. Zum Vorschein kommen typische Chouinard-Figuren, geschmackvoll und raffiniert bekleidet mit körperbetonenden Minimalkostümen, an denen gelegentlich Fransen baumeln. Weitere Tänzer kommen dazu, alle gleich gekleidet und mit blonden Kurzhaar-Perücken und Masken bedeckt; Frauen wie Männer. Es entstehen schwungvolle Konfigurationen aus Duos und Gruppen, häufig auf der Rampe im Saal.
Was zum Rücken des Publikums geschieht, ist auf den Monitoren zu sehen. Es wird gebrabbelt, gelacht, geschluchzt, geschrien. Plötzlich tritt Bundespräsident Fischer freundlich lächelnd auf, und das gleich elf Mal. Alle Tänzer tragen eine Maske mit seinem Antlitz und defilieren vor dem Publikum. Warum? Die auf Tournee befindliche kanadische Compagnie erweist ihre Referenz an Österreich, denn „Diese Figur verändert sich mit jedem Land, das wir besuchen, sie ist das Abbild aller politischen und sozialen Organisationen, ohne die wir Menschen nicht überleben können“, so Chouinard im Programmtext.
Trotz Erklärung erschließt sich jedoch der Sinn dieser Aussage nicht wirklich. Wie auch die ganze Dramaturgie zum „Goldenen Schnitt“, um den der Abend thematisch kreist. Chouinard empfindet die mathematische Formel Phi, die dem „Goldenen Schnitt“ zugrunde liegt, als magisch, da vielerorts auch in natürlichen Formen zu finden. Der ästhetische Grundsatz von der idealen Proportion wird also 80 Minuten lang spielerisch/tänzerisch/erotisch ausgelotet. Harmonie kippt in Disharmonie, wenn sich die Verhältnisse ändern, und vice versa.
Den Fischer-Masken folgen solche mit den Köpfen alter Menschen, dann setzen alle Akteure große Brillen auf. Ein Mann tanzt ein Solo in blonder Langhaarperücke, ins Blickfeld rücken auch die lustigen Lampen (zwei davon der berühmten, von den Pixar Studios animierten Luxo-Lampe von John Lasseter nachempfunden). Am Ende ein schönes Bild, wenn die Tänzer nackt mit Masken von Baby-Gesichtern verharren.
Es gibt tatsächlich schöne Momente an diesem Abend, doch bleibt ein zwiespältiges Gefühl zurück, eine Differenz zwischen hoher ästhetischer Kunstfertigkeit und platten Sinnbildern. Sich selbst zu zitieren ist zwar in Ordnung, aber gar zu sehr erinnerten Passagen an Chouinards Choreographie von „Le Sacre du Printemps“, zuletzt 2008 bei Impulstanz zu sehen. Da wie dort ging es um das Zelebrieren sinnlicher Körperlichkeit, was soll man da schon groß anders choreographieren? Resume: schöne Form, wenig Inhalt. Kein goldener Schnitt.
The Golden Mean (LIVE), ImPulsTanz , Museumsquartier, 4. August 2010