Ein Abend mit zwei konträren Annäherungsversuchen: Les Ballets de Monte-Carlo lassen „Daphnis et Chloé“ zueinander finden, Chris Haring und Liquid Loft suchen in „Sacre: The Rite Thing“ ihren Zugang zu Nijinskys „Le Sacre du Printemps“.
Wie ein feingliedriger Baum reckt und wiegt sich Chloé im leichten Frühlingswind, mal fröstelt sie, mal bebt sie, noch ahnt sie vom eigenen Begehren nichts. Ihrem Daphnis ist sie seit frühen Kindertagen zugetan, unbefangen sind sie in ihrem Spiel, unwissend, dass ihren Herzen ewige Bande bestimmt sind. Longos’ Hirtenroman aus dem dritten Jh. zählt zu den besonders sachten Liebesgeschichten in der Literatur und zu einer der raren unter den Klassikern, der ein gutes Ende gewährt ist. Jean-Christophe Maillot, Leiter der Ballets de Monte-Carlo, hat sich der beiden jungen Leute angenommen und ihre unbeholfenen Gehversuche auf dem Terrain der Liebe in ein seidiges Pas de deux vom Zögern und Zittern gepackt. Um dem hauchzarten Empfinden zwischen Daphnis und Chloé den nötigen Nachdruck zu verleihen, nehmen sich schließlich die Götter der Initiation der beiden Liebenden an und führen vor einem Bühnenbild, auf das mit wechselndem Fokus Aktzeichnungen projiziert werden, den Frühlingsreigen in ein etwas naiv erotisiertes Ende.Zeitlich liegt die Uraufführung von „Daphnis et Chloé“ nur unweit von „Le sacre du Printemps“ entfernt, dem sich Chris Haring mit Tänzern seiner Company Liquid Loft und der Ballets de Monte Carlo gewidmet hat; die Spuren, die Vaslav Nijinskys Choreografie aus dem Jahr 1913 in der Tanzgeschichte hinterlassen hat, sind allerdings ungleich tiefer. Ein Grund für Chris Haring sich mit der historischen Choreografie des vielgetanzten Klassikers auseinanderzusetzen, sie zu zerlegen, zu ironisieren und Elemente daraus wie getanzte Objets trouvés in die Gegenwart zu holen. Nachdem Anne Teresa de Keersmaeker in „D’un soir un jour“ vor einigen Jahren auf der Basis von Nijinskys Choreografie zu „Prélude à l`après-midi d`un faune" ihren Fokus auf die Flüchtigkeit des tänzerischen Augenblicks gesetzt hat, ergründet Chris Haring in „Sacre: The Rite Thing“ den Wandel und die Momente der Kontinuität in der tänzerischen Sprache. Er löst Einzelteile des nijinskyschen Vokabulars aus ihrem Kontext, fügt sie manchmal durch vielfaches Wiederholen seriell, experimentalfilmartig aneinander und zieht für die Tänzer und Performer seines gemischten Ensembles eine Textebene aus Gedanken, Phantasien und Plaudereien ein. Die Alltäglichkeit unterwandert das Zeremoniell der Opferung, das Sounddesign ist von Strawinskis Rhythmen nur skizzenhaft durchsetzt, das heidnische Ritual liefert nur die Denkanstöße. Reflexionen über Auserwählt-Sein und Opferbereitschaft drehen sich ums tänzerische und künstlerische Handeln selbst. „Le sacre du printemps“ fordert das Opfer einer Jungfrau ein, um für den Herbst eine Ernte aus dem Vollen erwarten zu können. Chris Haring hat für „Sacre: The Rite Thing“ ein glorifiziertes Stück Tanzhistorie dem Ritual der reflektorischen Zerteilung unterzogen und die geopferte Choreografie für das zeitgenössische Publikum als assoziative Serie von Fragmenten ins Heute transferiert.
Les Ballets de Monte Carlo: "Daphnis et Chloé" und "The Rite Thing", 21. Juli 2010, Impulstanz, Odeon Wien