James Thiérrée begeistert mit seinem Double das Publikum. Als Gestrandeter auf einer einsamen Insel kämpft er gegen Dämonen und gegen sich selbst, tanzt und turnt, gebietet dem Sturm und den Wellen und spricht mit den Wänden, bis diese, aus Eisenstäben gebildet, in sich zusammenstürzen und der Magier in den Himmel entschwebt.
Er ist Clown und Pantomime, Tänzer und Akrobat, Illusionist und Philosoph, Poet und Zauberer, Surrealist und fantastischer Realist, Skeptiker und Ästhet.: James Thiérrée verführt und überrascht sein Publikum immer von Neuem mit hintergründigem Witz und erlesenem Charme. Mit „La Veillé des Abysses“ (2004) und „Au revoir parapluie“ (2008) und neuerdings mit dem Solostück „Raoul“ (Uraufführung: April 2009).
Meint man anfangs, wenn der fremde Mann mit der Kopflampe durch die Reihen eilt und nach Raoul ruft, noch es sei ein Pas de deux, der da unter aufragenden Zeltplanen aufgeführt würde, so erkennt man bald, dass Raoul sich selber sucht. Die Zelte stürzen ein und ein komischer, verwirrter Einsiedler, der seinen Kopf in der Tonne sucht, stellt seine Rumpelkammer vor und versucht den Eindringling zu vertreiben. Es bleibt nicht bei dem Einen, immer neue Wesen bevölkern die Bühne und auch die Objekte und Versatzstücke erschrecken durch ihr Eigenleben. Raoul fürchtet sich vor den Menschen und den Dingen und dem großen silbernen Fisch, der um seine Insel schwimmt und dem bösen Skorpion. Nur den großen weißen Elefanten beachtet er gar nicht.
Raoul ist Raoul und auch sein Schatten (Lichteffekte: Jérôme Sabre), sein Gegner und sein Freund und er ist überall, in der Hängematte schläft er hoch oben an der stählernen Wand seiner Behausung und sitzt zugleich an seinem Grammophon, um Franz Schubert zuzuhören; er versteckt sich in der Tonne und tanzt zugleich den Freudentanz auf den Wellen. Raoul ist unnachahmlich, bezaubernd, hinreißend, Raoul braucht keine Worte und keine Geschichte, er mit seinem ausdrucksstarken Bewegungen und den überraschenden Effekten versetzt er das Publikum in ein Wunderland, in dem das Unmögliche zu glauben nur eine Frage der Übung ist.
James Thiérrée hat seine Zaubergaben in die Wiege gelegt bekommen, ist er doch der Enkel Charlie Chaplins und Urenkel von Eugene O'Neill. Schon mit vier Jahren ist er im „Unsichtbaren Zirkus“ seiner Eltern aufgetreten. Mutter Victoria (Tochter von Charlie Chaplin und Oona O’Neill, geboren 1951) hat er auch heute noch an seiner Seite. Die ehemalige Schauspielerin ist für die Konkretisierung der märchenhaften Welt verantwortlich, in der Raoul lebt, mit der er kämpft und sich versöhnt. All die wunderbaren Wesen, die sich auf der Bühne bauschen, winden und schlängeln und auch in den Lüften fliegen, hat Victoria Thiérrée entworfen. Für das Sounddesign (von Schubert bis Purcell, von Brummen und Krachen bis zum sanften Chorgesang) ist Thomas Delot verantwortlich
Wenn James Thiérrée fliegt und stolpert, tanzt und turnt, kreiselt und klettert, plötzlich verschwindet, um ganz wo anders wieder aufzutauchen, weckt er Sehnsüchte und Ängste und gibt dem Publikum Rätsel auf, die niemals gelöst werden können. Keine Frage, dass ihm, wenn er sich zum letzen Flug in den Bühnenhimmel hebt, die Herzen aller mitfliegen. Auch wenn er uns davor gezeigt hat, wie das funktioniert, mit dem Flug Raouls durch die Lüfte.
James Thiérrée: „Raoul“, Wiener Festwochen im Theater an der Wien, 23. Mai 2010