Im berühmten siebten Himmel soll sich Gustav Mahler gefühlt haben, als er das Adagietto seiner 5. Symphonie für seine Frau Alma komponierte. Solch romantische Gefühlsduselei ist Marco Goecke fern. Er verfolgt strikt sein markantes Bewegungssystem, und lässt die Musik dabei quasi links liegen. Endlich hat Mahler, der den Tanz bekanntlich nicht auf seinem Radar hatte (vgl. auch Wiener Tanzgeschichte vom November 2020), seinen choreografischen Meister gefunden. Diese Uraufführung des Abends hätte nicht besser eingebettet sein können zwischen Martin Schläpfers Walzer-Hommage und George Balanchines Umsetzung von Bizets „Symphony in C“.
„Fly Paper Bird“
Goecke entwickelte sein Stück „Fly Paper Bird“ mit den Tänzer*innen ohne Musik. Und auch wenn das Ergebnis aussieht, als wäre Mahlers Komposition dabei nicht zwingend notwendig, so ist sie doch sehr pointiert eingesetzt, passen Tanz und Musik kongenial zusammen. Der zweite Satz der 5. Symphonie entspricht auch 120 Jahre nach ihrem Entstehen dem Gefühlszustand der getanzten Figuren, Kreaturen des 21. Jahrhunderts, gefangen in den Neurosen ihrer Zeit, die Goecke genauer aufzuzeigen vermag als jeder andere Choreograf. Da ist einmal die durchgehende Spannung in den Körpern der Tänzer*innen. Rasant bewegen sie sich innerhalb dieses Gefängnisses, als welches Goecke den Körper bezeichnet. Im Turbospeed flattern die Hände, die durchgehend zu einer Klaue gehalten sind. Angsterfüllt zappeln sie, darauf bedacht ja nicht zu spät zu kommen. Bevor das Adagietto einsetzt werden sie panisch unter die Scholle im Bühnenhintergrund hineinhuschen. Dann wird diese sich heben, und sich als riesiger Vogel entpuppen. Währenddessen lässt sich Goecke von der Bekanntheit des vielgespielten Mahler-Gassenhauers keineswegs irritieren, sondern setzt ihm seine eigene Sprache entgegen. Als wollten sie den Pathos der Musik brechen flüstern die Tänzer*innen hörbar und doch unverständlich Passagen aus dem Gedicht „Mein Vogel“ von Ingeborg Bachmann.
Das Wiener Staatsballett hat sich großartig dieses ungewohnte Tanzidiom angeeignet – allen voran Rebecca Horner, der die Anspannung sogar ins Gesicht geschrieben war. In Thomas Mika hat Goecke einen kongenialen Ausstatter gefunden. Unter den schwarzen, leicht transparenten Anzügen tragen die Tänzer*innen hautfarbene Trikots mit schwarzem Batik, die wie Tätowierungen, Verletzungen, Schrammen erscheinen. Das Bühnenbild, das anfangs kaum sichtbar im Hintergrund war, schwebt später lautlos als Riesenvogel im Raum. Doch den Menschen davor gelingt dieser Befreiungsakt nicht.
Als Zuschauerin befindet man sich in einem Alptraum, dem man sich nicht entziehen kann, denn Goecke beherrscht das Bühnenhandwerk. Sein Bewegungskanon kennt nur wenige Motive: aus der verkrampften Haltung zittert, vibriert und bebt es mit atemberaubender Geschwindigkeit. Dann gibt es in dieser Zwanghaftigkeit Momente des Innehaltens, kurze Augenblicke der scheinbaren Ruhe. Doch wie in einem Psycho-Krimi lauert immer die Gefahr, die weder sichtbar noch zu bezeichnen ist.
In Hinblick auf seine kompromisslose und konsequent umgesetzte Vision steht der gebürtige Wuppertaler wohl auf einer Ebene mit der anderen, großen Wuppertalerin Pina Bausch. In die Welt des Balletts bringt er eine neue, ähnlich radikale Sprache wie Alain Platel mit seinen vom Tourette-Syndrom inspirierten Stücken in die zeitgenössische Szene. Eine Welt der Beklemmung, mit einer sehr eigenwilligen, aber vollendeten Ästhetik.
Auf zur himmlischen Ekstase
Auch wenn der Mittelteil eher gegen das Motto des Abends auftrat, so wird es anschließend mit Balanchines „Symphony in C“ erfüllt. Dafür sorgt die mitreißende Musik von George Bizet ebenso wie die neoklassische Schönheit, die der Choreograf hier ganz im Sinne des Ballet blanc einlöste. In der Einstudierung von Patricia Neary konnten die Solist*innen des Wiener Staatsballetts wieder einmal ihre vertraute Virtuosität ausspielen.
Es ist ein Stück, in dem die Frauen den Ton angeben. Im ersten Satz war das die neue Erste Solistin Hyo-Jung Kang, unterstützt von Masayu Kimoto. Liudmila Konovalova tanzte mit unvergleichlicher Präzision mit dem kürzlich vom Bayerischen Staatsballett nach Wien gewechselten, jungen Ersten Solisten Alexey Popov. An der Seite der leichtfüßigen Kyoka Hashimoto strahlte Davide Dato gelöst und heiter, nachdem er zuvor noch in der Goeckschen Spannung hervorstach. Ein Universaltänzer, der scheinbar in jeder Rolle optimal besetzt ist. Ein Wiedersehen gab es im abschließenden Satz mit Roman Lazik, der mit Sonia Dvorak die Hauptpartie tanzte. Untadelig und hoch motiviert, das galt auch für die übrigen Solopaare, allerdings mangelte es beim Corps de ballet an der nötigen Sauberkeit. Noch haben hier die Tänzer*innen aus der Ära Legris nicht mit den neuen Ensemblemitgliedern zusammengefunden.
Walzerseligkeit, oder?
Diese Unterscheidung ist freilich in den Werken des Ballettchefs obsolet. Denn gerade in „Marsch, Walzer, Polka“ scheinen kleine Schlampereien Programm zu sein, wären sie doch auch Teil des Esprit Viennois, den Martin Schläpfer hier liebevoll und augenzwinkernd auf die Bühne bringt., wobei er sich aber dem verspielten Charme der Musik keineswegs entzieht. Dennoch: Keine Spur vom eleganten Opernball-Habitus, vielmehr wähnt man sich in das Milieu zurückversetzt in dem die Straußschen Walzer ihre Uraufführung erlebten, ins Dianabad, in den Prater oder Volksgarten.
Ketevan Papava eröffnet den Wiener Klangreigen im Donauwalzer als puppenhafte Fee mit Glitzerhäubchen, die die schnell aufeinanderfolgenden Tanzbilder auf die Bühne zaubert. Bald tritt das Ensemble in bunten Kleidern auf, walzt glückselig dahin oder versucht es auch schon mal breitbeinig auf Spitze. Da kommt mitunter eine deftige Bewegungssprache zum Einsatz, wenn etwa weinselige Gestalten über die Bühne torkeln.
Mit Sveva Gargiulo kommt eine trotzende Göre ins Geschehen, bei der Verehrer Lourenço Ferreira nichts ausrichten kann, da sie ja den anderen will, der sie nicht will. Mit zwei Rad schlagenden Pas de trois wird die Pizzicato-Polka eingeleitet, die an diesem Abend ihre choreografische Uraufführung erlebt.
Der Spitzenschuh wird im Laufe von „Marsch, Walzer, Polka“ immer wieder eingesetzt, als Perkussionselement, oder als Steppschuh-Ersatz, selten jedoch in seiner ursprünglichen Dimension der Erhöhung. Zur Waffe wird er im Walzer Sphärenklänge, wenn neun grantige Frauen à la Carabosse (die böse Fee in „Dornröschen“) ihre Dominanz in den Boden stampfen. Während eines Blackout, überlässt Schläpfer das Feld komplett der Musik.
Susanne Bisovsky hat für diese Wiener Version des Balletts, das 2006 mit dem ballettmainz uraufgeführt wurde, wundersame Kostüme kreiert. Sie sind nicht nur eine Referenz an alpenländische Trachten, sondern auch an die Commedia dell’arte mit ausladenden Halskrausen. Sie verkörpern so auch den schelmischen Geist, den Schläpfer in dieses Werk gepackt hat. Mit einem Blick von außen zeichnet er seine Karikaturen wienerischer Folklore, genial etwa zum Radetzkymarsch: Jackson Caroll verkörpert eine Art „gschamster Diener“, bei dem sich Unterwürfigkeit mit Überheblichkeit paart.
„Marsch, Walzer, Polka“ ist vielleicht nicht das, was man gemeinhin mit diesem Genre assoziiert. Vielmehr ist es ein durchwegs vergnügliches Seh- und Hörerlebnis und ein wunderbares Heimspiel für das Wiener Staatsopernorchester, das unter der Leitung von Patrick Lange auch bei Mahler und Bizet in klanglicher Hochform musizierte.
Wiener Staatsballett: „Im siebten Himmel“, Premiere am 14. November in der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 18., 20., 25., 27., 29. November, 4., 9. Dezember