Natürlich kann man nach Bildern suchen, wenn viele nackte Körper kreuz und quer übereinander liegen oder sich in Formationen bewegen. Es entstehen tatsächlich einige spannende Tableaus durch das gleichzeitige Schütteln und Wackeln von Körperteilen zum Sound der Technobeats. Aber das ist nicht das entscheidende Moment in „Habitat“ mit 120 PerformerInnen und einem DJ am Laptop.
Erst die sechshundert ZuschauerInnen vollenden den Energiefluss im bis auf die Tribüne leer geräumten Raum der Halle E und machen ihn zu der vibrierenden Raumskulptur, die er durch diese großartige Bewegungsintervention der Choreographin Doris Uhlich geworden ist.
Wie ist das vor sich gegangen? Zunächst betritt das Publikum die Halle E, wo einige der AkteurInnen bereits verteilt im Raum anwesend sind. Es gibt Bänke seitlich an den Wänden, allerdings nicht genügend Sitzplätze für alle, so dass viele Menschen am Rand stehen bleiben oder am Boden Platz nehmen. Dann beginnt ein Performer oben auf der Empore, mit ausgebildeter und hübscher Tenorstimme, Popsongs zu singen, zB. „Holliday“ von Madonna. Allmählich kommen alle PerformerInnen in die Halle, jung, alt, im Rollstuhl, mit OP-Narben, Frauen, Männer, Laien und Profis. Gemeinsam haben sie die Nacktheit ihrer Körper.
DJ Boris Kopeinig steht auf der (nicht für das Publikum begehbaren) Tribüne an den Turntables, ebenfalls nackt. Die harten Technobeats evozieren schnelle, zackige Bewegungen der Mitwirkenden, doch die Menschen tanzen nicht ab wie bei einem Rave, sondern vollziehen individuelle Moves. Und selbstverständlich – es ist ja Uhlich die Choreographin – wird ihre spezielle „Fetttanztechnik“ angewandt, die sie in den letzten Jahren entwickelt hat. Man lässt einen Körperteil rhythmisch wackeln, und naturgemäß funktioniert das eher mit Weichteilen. Doch unterstützen sich die AkteurInnen auch gegenseitig und helfen etwa, fremde Arme zu bewegen.
Sie verändern dann ihre Positionen und sammeln sich in einer Saalhäfte, und viele aus dem Publikum folgen ihnen. Auch das kann man als gelungene choreographische Intervention Uhlichs werten, denn durch die kluge Verweigerung von Sitzplätzen für alle entsteht erst die gewünschte Dynamik im Publikum. Zuerst folgen viele BeobachterInnen dem Strom und bilden einen Kreis um die TänzerInnen, denn man will ja nichts versäumen. Andere ZuschauerInnen bleiben auf den Bänken, gehen ein Stück und setzen sich wieder, manche dann auch auf den Boden mitten im Saal. Die PerformerInnen verteilen sich nun zu vier Formationen im Raum und bilden Körperskulpturen. Sie heben eine Person hoch in ihre Mitte und verharren so im Freeze-Modus. Hier wird es dynamisch interessant, denn es ist ein Moment der Ruhe, aber gleichzeitig auch voller Spannung. Die Bekleideten bewegen sich nämlich weiter, manche andere wippen mit zu den Beats. Gelegentlich wechselt das Licht, was die Stimmung sowie die Sichtweise im Raum verändert.
Was passiert hier? Es geschieht die gemeinsame, körperliche Vereinnahmung eines Raumes von einander in Harmonie begegnenden BewohnerInnen dieses speziellen Habitats, der Halle E. Es spielt keine Rolle, ob jemand bekleidet ist oder nackt, wer Gewand trägt und wer nicht. Es gibt keine Wertungen und nichts ist peinlich. Sogar die Dichotomie von SpielerIn-ZuschauerIn scheint überwunden. Der Blick auf den Anderen ist anders als außerhalb der Halle. Hier geht es um energetische Wahrnehmung, um kinästhetische Wahrnehmung, man wird Teil eines komplexen Organismus, was sich aber leicht anfühlt.
Als dann die PerformerInnen die Tribüne erklimmen und sich seitlings mit dem Rücken zur Saalmitte auf die Stufen legen, hintereinander und abwärts geschlichtet und unbewegt, entsteht aus diesem grafischen Muster ein starkes Bild für die unten in der Halle Anwesenden. Andere PerformerInnen sind gleichzeitig gegenüber auf der Empore und agieren gegensätzlich, in schnellen Bewegungen. Alle im Raum verbindet diese spezielle Elektrizität.
Einmal nehmen die AkteurInnen Platz oben auf der und schauen hinunter, auf die bewegte Menge. Jetzt sehen sie dem Treiben zu. Später, als alle wieder unten sind, steigen einige auf Bierkisten und schauen geradeaus, ziemlich lange. Irgendwann drehen sie sich um neunzig Grad, verharren und drehen sich weiter, solange bis der Kreis vollzogen ist. Interessant zu sehen, wie die jeweilige Blickrichtung die Bewegungen des Publikums beeinflusst. Sehr schön sind auch jene stillen Momente, wenn alle ganz ruhig am Boden liegen und eine Zeit lang verharren, dazu nur leiser Techno-Sound. Am Ende der Performance fahren ein paar TänzerInnen noch mit automatischen Plattform-Wägen hoch und nieder, eine Art Fortsetzung der Bewegung in die Vertikale.
Zum Schluss liegen alle wieder am Boden, das Licht geht aus. Großer Beifall setzt ein, erschöpfte TänzerInnen und ein hochenergetisiertes Publikum applaudieren einander zu, mit Recht. Denn gemeinsam hat man die Halle E zu einem performativen Raum gemacht, in der sonst repräsentatives Theater stattfindet, das man, je nach Höhe des bezahlten Eintrittspreises ordentlich auf Sitzen geschlichtet, konsumiert. In „Habitat“ jedoch gab es nichts zu konsumieren. Hier gab es keine Interpretationsleistung, die einem als ZuschauerIn abverlangt wurde, keine unangenehme Interaktivität. Hier wurde nichts erzählt, nichts gezeigt, es gab keine Botschaft, sondern etwas wurde getan, von allen gemeinsam und zusammen. Hier nahmen alle Anwesenden einander mit Interesse wahr. Diverse Vorurteile über Attraktivität oder Versehrtheit, die nun einmal alle Menschen haben, spielten hier keine Rolle.
Uhlich hat mit dieser großen Chorarbeit auch keine theoriegetriebenen Statements zur Körper- und Gendertheorie inszeniert, oder Körpereinschreibungen sichtbar machen wollen. Auch stand die individuelle soziale Befindlichkeit der Mitmachenden nicht im Fokus. All das mag schon mitschwingen, aber die Nacktheit ist hier mehr als ein Kostüm, so wie man es im historischen Nackttanz der Moderne verstehen konnte. Entsexualisierte Nacktheit ist hier tatsächlich das Prinzip und Fundament für das Gelingen dieser großen, theatralen und partizipatorischen Aktion. Hier gelang es, mit künstlerischen Mitteln des Tanzes eine gewaltige, soziale Raumskulptur zu schaffen.
Doris Uhlich: „Habitat“ am 25. Oktober 2019 im Museumsquartier Wien, Halle E. Eine Veranstaltung des Tanzquartier Wien