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Loin4679Introdans zeigt in ihrem aktuellen Programm „5 Stars“, das im Mai und Juni in Deutschland und den Niederlanden auf Tournee ist, einen repräsentativen Querschnitt aus der Vielfalt des zeitgenössischen Balletts. Für seine Fotoreportage hat Ingo Schäfer ein Interview mit Sidi Larbi Cherkaoui  geführt, dessen Stück „Loin“ neu ins Repertoire der niederländischen Compagnie kam. Die weiteren Sterne des Abends stammen von Ben Van Cauwenbergh, Robert Battle, Mauro de Candias und Jiří Kylián.

Im Rahmen des Programms „5 Stars“, erlebte Sidi Larbi Cherkaouis, 2005 für das Grand Théâtre de Genève geschaffene Arbeit „Loin“, seine niederländische Premiere. Die Compagnie Introdans, die bereits auf eine langjährige Zusammenarbeit mit dem Choreografen zurückblicken kann, ist damit nach Grand Théâtre de Genève das erste Ensemble, welches „Loin“ nun auf die Bühne zurück bringt.

Sidi Larbi Cherkaoui, seit 2015 künstlerischer Leiter des Königlich Flämischen Balletts und der von ihm 2010 gegründeten Tanzkompagnie Eastman, gilt in der internationalen Tanzszene als einer der interessantesten und kreativsten Künstler. Der bemerkenswert produktive, 1976 in Antwerpen geborene Choreograph und Tänzer flämisch-marokkanischer Abstammung, zeichnet  seit seiner kühnen, mehrfach preisgekrönten Choreografie zu „Anonymous Society“ im Jahre 1999 für mehr als 50 choreografische Werke verantwortlich. In seinen Produktionen verbindet Cherkaoui Elemente unterschiedlichster Kulturen und Kunststile miteinander.

Ob er, wie in „Sutra“ (2008) Shaolin Mönche mit einer vom Kung Fu inspirierten Choreografie auftreten lässt, oder in „Fractus V“ (2015) selbst gemeinsam mit einem Zirkus-Akrobat, einem Lindy-Hop-Solisten, einem Flamenco Tänzer und einem Urban Dancer auf der Bühne steht und aus Tanz, live dargebotener Musik eines japanischen (Shogo), eines koreanischen (Woojae), eines afrikanischen (Kaspy) und eines indischen Musikers (Soumik) und Texten des Linguisten und Philosophen Noam Chomsky eine Art Gesamtkunstwerk schafft, Cherkaoui liebt Grenzüberschreitung und weiß sich aus der Vielfalt jedweder künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten gekonnt zu bedienen und diese für sein choreografisches Oeuvre zu verwenden.

Gegenwärtig in New York und Boston bei den letzten Vorbereitungen zur Weltpremiere der Musicalproduktion „Jagged Little Pill“ zu Musik aus Alanis Morissettes 1995 erschienen gleichnamigen Albums, nahm er sich während eines kurzen Zwischenstops in Antwerpen Zeit für ein ausführliches Interview.

In seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Introdans und dem künstlerischen Leiter des Ensembles Roel Voorintholt entstanden bereits mehrere gemeinsame Projekte. So wurden in den Jahren 2009 und 2010 Auszüge und ein Duett aus Cherkaouis Choreografie „In Memoriam“ und fünf Jahre danach das Werk „Orbo Novo“ mit dem Introdans Ensemble erarbeitet. Die Aufführung von „Loin“ nun mit dem Ensemble Introdans wieder auf der Bühne zu bringen, beschreibt Cherkaoui als einen für ihn bewegenden Moment, der ihn zurückblicken und reflektieren lässt, wo er selbst und die Tänzer, mit denen er zu jener Zeit zusammengearbeitet hat, heute stehen. Ein Stück, sagt er im Interview, nach einer längeren Zeit wieder auf die Bühne zu bringen, ist eine fantastische Reise gleichermaßen für den Choreografen und die Tänzer.

Loin4268sAm Anfang steht eine Begegnung, Männer und Frauen verharren in der Bewegung, Stirn an Stirn sich gegenüber stehend. Allmählich nehmen sie Kontakt zueinander auf und in einer fließend ineinandergreifenden Choreografie von Händen, Armen und Ellbogen lösen sich Distanzen auf, Bindungen werden eingegangen und gehen von einem auf den anderen Tänzer über.
Loin4261sEin immer wiederkehrendes Motiv in Sidi Larbi Cherkaouis Choreografien ist die Frage, was uns Menschen verbindet oder trennt und wie wir kulturelle und soziale Distanzen überwinden können. In jenem, für ihn typischen Stil, organisch fließender Bewegungen, die scheinbar weder Anfang noch Ende kennen, begegnen sich die Tänzer, die, in ihrem eigenen Leben, wie in der Choreografie Cherkaouis, Menschen unter-schiedlichster Herkunft und kultureller Prägung sind.
Loin4312sCherkaoui bedient sich für „Loin“ aus den zwischen 1678 und 1687 entstandenen Rosenkranzsonaten (auch „Mysterien-Sonaten genannt) von Heinrich Ignaz Franz Biber. Der feierliche Ernst der barocken Kammermusik schafft eine beinahe meditative Grundstimmung, die in bewusstem Kontrast zu jenen Textpassagen steht in denen das Ensemble unisono über eigene, ganz persönliche Erlebnisse berichtet. „I’ve been trying to choreograph on the music I care about“, sagt Cherkaoui.
Loin4417sIn Interviews, die Cherkaoui im Anschluss an eine China Tournee des Grand Théâtre de Genève führte, berichteten sie ihm von der Fremdheit des Landes, die sie als eine Art Kulturschock erlebten, der sie unvorbereitet traf. „The text is kind of funny. It shows to what degree, when we only look through our own eyes, how limited that is and how little do we see. I thought if we want to learn to look at beauty we need to speak its language.“
Loin4524sDas Bühnenbild von Wim Van de Cappelle: Eine massiv wirkende goldene Wand, mit wiederkehrenden Verzierungen im maurischen Stil, dominiert einen Teil der Bühne und steht in direktem Kontrast zu den fließenden Vorhängen, die die Tänzer umgeben. „I wanted to make a pice about distance. I have always been intrigued by China and 'Loin' was the first project in which I was kind of reaching out for the East.“
Loin4528Cherkaoui verbindet fernöstliche Elemente seiner Choreografie mit den persönlichen Erfahrungen und kulturellen Wurzeln der Tänzer des Ensembles. Er bat die Tänzer des ursprünglichen Ensembles ihm Lieder aus ihrer Heimat vorzusingen. Ein traurig klingendes Lied aus Rumänien gefiel ihm so gut, daß es in die Choreografie von „Loin“ aufgenommen wurde um von einem Tänzer des Ensembles gesungen zu werden.
Loin4753s„Journey“ - ein Begriff, der im Gespräch mit Sidi Larbi Cherkaoui häufig fällt und den er gerne gebraucht. Und so erscheint er auch als ein ständig Reisender, der die ganze Welt in ihrer Vielfältigkeit in sich aufnehmen möchte um sie in seinen Werken zu verwenden, auseinander zu nehmen und wieder  neu zu ordnen. „I find it fascinating to bring these emotional elements of other cultures that we don’t understand but somehow we can feel and appreciate. And we realise that there is so much more to learn if we go there and make the journey.“
Loin4547In Cherkaouis Choreografie erscheint Tanz wie ein unablässig fließender Strom. Die Bewegungen der Tänzer scheinen weder einen Anfang noch ein Ende zu kennen. Cherkaoui beschreibt seinen persönlichen Stil in dem jede Bewegung unweigerlich zu einer weiteren führt als eine Art ständiger Transformation. „I want to work at the place where one thing transforms into another, that’s really my obsession.  I want to connect to everything. Maybe because that’s my identity because I’ve grown up like that. I am Moroccan and Belgian.
Loin4679Es geht um Entfernungen in Cherkaouis “Loin“, und es geht darum geografische, kulturelle und religiöse Distanzen zu überwinden. Und wie in allen Werken Cherkaouis steht im Mittelpunkt der Mensch auf der Suche und der Begegnung mit sich selbst und der Welt die ihm so oft fremd erscheint. Sidi Larbi Cherkaoui ist ein Suchender und ein Hoffender auf Besinnung, Erkenntnis und das letztendliche Zusammenfinden aller Gegensätze.

Die weiteren Stücke der "5 Stars"

Jiří Kyliáns „Dream Time“

DreamTime3644sDas 1983 mit dem  Nederlands Dans Theater uraufgeführte Stück aus der lyrischen Phase des Choreografen zur Musik von Toru Takemitsu erlebt mit dem Ensemble Introdans eine Wiederaufführung. Neben der anspruchsvollen Tanzdarbietung der Solisten ebenso sehenswert sind die Kostüme und das Bühnenbild von John F. MacFarlane.

Robert Battles „Unfold“

Unfold4103Mit „Unfold“ kann das Ensemble Introdans nun bereits die zehnte Kreation des künstlerischen Leiters des renommierten Alvin Ailey American Dance Theater in seinem Repertoire aufweisen. Zu einer leidenschaftlichen Arie aus Gustave Charpentier’s Oper „Louise“ zeigen die beiden Solisten Jazmon Voss and Vérine Bouwman ein intensives, anmutig getanztes Duett.

Ben Van Cauwenberghs "Les Bourgeois“

Bourgeois4190sVom gleichnamigen Song Jaques Brels inspirierte den flämischen Choreografen Ben Van Cauwenbergh, ehemals Solist am Royal Flanders Ballet und London Festival Ballet, zu einem gleichermaßen charmant humorvollen wie technisch anspruchsvollen Solo, welches Einzug fand in das Repertoire von international bekannten Ballettgrößen wie Carlos Acosta, Sergei Polunin and Daniil Simkin.

„La Morte del Cigno“ von Mauro de Candida

Cigno4033sEine moderne Interpretation des Sterbenden Schwans zur Musik von "Le Cygne" aus Camille Saint-Saëns "Karneval der Tiere". Im Gegensatz zum verletzlichen Schwan der Originalchoreografie von 1905 ist der Schwan de Candidas ein Mann und eine stolze Kreatur, die sich leidenschaftlich für ihre Freiheit einsetzt.

Die nächsten Aufführungen gibt es im Mai und Juni 2018 in den Niederlanden und Deutschland. Die jeweiligen Aufführungsorte finden sich auf der Introdans Website.

Trailer zum Programm „5 Stars“

Das ausführliche Interview mit Sidi Larbi Cherkaoui ist demnächst auf tanz.at zu lesen