Es bedarf keineswegs der Wiederkehr ihres 50. Todestags, um an die Singularität der am 22. Juni 1970 verstorbenen Grete Wiesenthal erinnert zu werden. Ihr Tanz ist – trotz der schmerzlich empfundenen Absenz in der heutigen Szene – immer präsent. Dem Desinteresse der Tanztragenden steht die intensive Hinwendung an das Wiesenthal᾽sche Werk seitens der Germanisten gegenüber. Auch für sie sei hier – mit den Gedanken bei Hofmannsthal – eine (nicht realisierte) Pantomime der Wiesenthal erstveröffentlicht.
Pantomime in 2 Bildern von Grete Wiesenthal [1916]
Musik (mit Benutzung von Johann Strauß᾽scher Melodien) von Hugo Moesgèn
I. Teil: Auf den Spitzen.
Vorhang. Das Artistenquartett tritt ein. Der Klown zieht den Bären hinter sich her. Die Tänzerin folgt schüchtern. Sie ziehen durch den Saal. Als sie an dem leeren Thron vorbeikommen, verneigt sich der Klown ehrerbietigst, die Tänzerin aber führt die Hand zum Herzen und streicht zaghaft liebkosend über die Lehne des Thrones. Die Vier nehmen darauf erwartungsvoll Aufstellung im Hintergrunde des Saales. Durch die Tür kommen die drei Räte. Sie stolzieren an den Artisten vorbei und betrachten sie mit hochmütig prüfenden Blicken. Unter ihren Blicken erzittert die Tänzerin voll Scham, sie wendet den Kopf, sie bedeckt mit ihren Händen ihre Brüste, sie sinkt in die Knie bei der kritischen Prüfung ihrer Füße. Sie fordern die Tänzerin zum Tanz auf. Nun soll sie tanzen, aber die Art der Räte hat sie erschreckt und sie fühlt sich wie ein gefangener Vogel. Dem Throne zugekehrt, fängt sie zagend an und tanzt einen freien und anmutigen Tanz, in dem sie ihre Hingebung und Ehrfurcht für den königlichen Prinzen ausdrückt. Die Räte bemängeln ihre Kunst, indem sie meinen, so einfach könnten sie auch tanzen. Die Tänzerin sucht Zuflucht bei dem Klown. Er beruhigt sie: Geh᾽ nur mein Kind! Ich muss selbst schauen, was ich mit den anderen Tieren hier anfange. Die Tänzerin verschwindet, einen traurigen Blick auf den Thron werfend. Der Klown preist seinen Papageien an und lässt den Bären tanzen. Es gefällt den Räten. Pauken verkünden das Herannahen des Prinzen. Die Räte drängen eiligst den Klown mit seinen Tieren hinter die Kulissen und nehmen eine ehrfurchtsvolle Pose zum Empfang des Prinzen an: Der Prinz tritt gelangweilt, kaum die Räte beachtend herein. Er schreitet dem Thron zu und lässt sich daselbst nieder. Die Räte überreichen ihm die Insignien seiner Würde, die auf einem Tisch neben dem Thron bereit liegen. Der erste Rat die Krone, der zweite das Szepter, der dritte den Apfel. Der erste Rat läutet dem Klown, der sofort mit grotesken Bewegungen erscheint, Papagei und Bären sowie einen großen Zirkusreif mit sich führend. Zuerst zeigt er dem Prinzen den Papagei, wobei die Räte die wundervollen Eigenschaften desselben erklären, abwechselnd auf den Papagei und sich selbst deutend. Der Klown bestätigt ihre Bewegungen, was den Räten aber missfällt. Der Prinz aber lehnt mit einer überdrüssigen Gebärde den Papagei ab, worauf die Räte sofort den Klown mit seinem Bären vorschieben. Nun führt der Klown den Bären an der Kette über die Bühne. Er lässt ihn tanzen, und der Bär tanzt, wie Bären es eben können. Der Prinz wehrt ab. Die Räte suchen neue Ideen und suchen solche in einem Kasten, der zwei andere enthält, ebenso leer wie der erste und ihre Köpfe. Doch: Im letzten Kasten liegen ein paar rosa Balletschuhe. Sie balgen sich um die Schuhe, die sie alle drei erfunden haben wollen. Der Bär hat dem Zank der drei liebevoll interessiert zugeschaut, bis er die Zeit für gekommen hält, in aller Ruhe den drei Räten einen kräftigen Backenstreich zu versetzen. Die Drei prallen entsetzt auseinander und nun kommen sie alle drei zugleich auf die Idee, dem Bären die Balletschuhe anzuziehen. Hier schaut der Prinz zum ersten Mal hin. Die Räte tanzen dem Bären Spitzentanz vor, so gut sie es mal können, eifrig bemüht und angespornt von der prinzlichen Aufmerksamkeit. Der Bär scheint lernwillig zu sein, tanzt sobald famos auf den Spitzen und vollführt die wunderbarsten Balletpas. Und hier geschieht das Wunder: Der nie lachende Prinz legt Szepter und Apfel weg und lacht, dass die Krone auf seinem Kopfe wackelt, was den Räten die tiefsten Freudenkundgebungen ablockt. Der Klown sieht, dass das Spiel gewonnen ist und dass er sich auf weitergehende Wagnisse einlassen kann. Er tritt als Zauberer auf, zwingt den Bären dem Hintergrunde der Bühne zu, zieht dort um ihn herum den magischen Kreis, damit er gebannt dort verharrt. Der Bär zittert und lässt die Vorderpfoten menschenähnlich den Körper entlang herniedersinken. Unter Zauberzeremonien hält der Klown den großen Reif vor den Bären hin und die Entzauberung ist vollbracht. Durch den Reif tritt die Tänzerin, die Bärenhaut hinter sich lassend, auf die Bühne. Die Tänzerin, beirrt und zweifelnd, was nun das richtigste ist, um den Beifall des Prinzen zu gewinnen, tanzt mit Bravour die hohe alte Balletschule. Das Gesicht des Prinzen ist wieder betrübt, und er macht eine unwillige Gebärde, hebt die Krone von seinem Kopfe, steht auf und geht auf die Tänzerin zu. Verlegen macht diese halt, nicht wissend, was der Prinz vorhat. Er aber beugt sich schnell zu ihren Füßen herab, fasst den einen kleinen Schuh nach dem andern, indem er die Ballettschuhe auszieht und den Räten an den Kopf wirft. Darauf gibt er der Tänzerin mit einer reizenden Gebärde zu verstehen, dass ihm diese Tanzart nicht gefällt, und küsst als Zeichen seiner Gnade ihre Hand. Hierauf tanzen Prinz, Tänzerin, und Klown mit den drei Räten ein Sextett. Der Prinz hat dabei zum Schluss wieder seinen Thron bestiegen und sich die Krone aufgesetzt. Die Tänzerin tanzt ein unerhörtes Furioso. Jetzt denken die Räte, dass sie doch zu guter Letzt sich gegen die Tänzerin behaupten und komplimentieren sie unsanft zur Tür hinaus. Der Klown kriegt es mit der Angst und verschwindet mit seinen Requisiten in die Kulissen hinein. Der Prinz erhebt sich drohend gegen die Räte und stürzt, mit der Krone bekleidet, der Tänzerin nach. Die Räte verbeugen sich blöde und fassungslos und machen einander achselzuckend dumme Gesichter. Vorhang schnell.
II. Teil: Im Freien.
Vorhang (langsam). Die Tänzerin kommt in ihrem Wanderkleid, in ihrem Bündel das Tanzkostüm. Sie ist müde und traurig, weil sie nun den Prinzen doch nicht gewonnen hat und ihn nie mehr sehen soll. Sie setzt sich unter die Birke, lehnt sich an den Baumstamm und schläft ein. Aus dem Walde kommen die drei kleinen Pagen (ein Eros, ein Pan, ein Bacchus), die vom Prinzen ausgeschickt sind, die Tänzerin zu suchen und ihr Geschenke zu bringen. Erfreut, dass sie sie gefunden haben, rufen sie den Prinzen herbei, der sich auch mit den Pagen auf die Suche nach der Tänzerin begeben hat. Während die Pagen die Geschenke an die Zweige des Baumes hängen und sich dann im Gebüsch verbergen, tritt der Prinz eilig, doch bemüht, die Tänzerin nicht zu wecken, entzückt an sie heran. Bewegt betrachtet er die Schlafende. Die goldenen Schuhe stellt er selbst zu den Füßen der Tänzerin. Er kann sich jetzt nicht mehr beherrschen und küsst die Tänzerin. Sie erwacht – aber bevor sie den Prinzen gesehen, hat er sich schon hinter dem Baum verborgen. Noch ganz schlaftrunken richtet sie sich auf, schaut als träume sie, die schmuckbeladenen Zweige an. Als sie aber die goldenen Schuhe entdeckt, springt sie freudig überrascht empor und zieht dieselben an. Sie fängt zu tanzen an, frei und ungebunden in leidenschaftlichen Rhythmen. Sie läuft wie ein Kind zum Christbaum und pflückt den Schmuck von den Zweigen. Währenddessen bewegen sich die kleinen Pagen in ihrem Gebüsch, und zitternd hält die Tänzerin inne, bange, dass der schöne Traum zerstört werde. Sie schmückt sich, weitertanzend. Sie merkt nicht, dass der Prinz sich, sie begleitend im Tanze, nähert. Als sie sich in den ganzen Schmuck eingekleidet hat, tritt der Prinz plötzlich in einer Bewegung des Tanzes vor – sie erschrickt. Er aber nimmt von seinem Kopfe die Krone und setzt sie der Tänzerin auf. Die kleinen Pagen kommen jetzt auch hervor, huldigen der Tänzerin und führen sie dem Prinzen entgegen. Er reicht ihr die Hände und lädt sie zum Brauttanz ein. Der Prinz und die Tänzerin, von den Pagen gefolgt, entschwinden rechts dem Schlosse zu. Der Klown zieht über die Bühne, die Räte an einer Kette hinter sich führend. Der letzte Rat zerrt hinter sich den Spielbären. Der Klown führt sie in drolliger Majestät gegen die linke Kulisse zu. Während sich der Spielbär noch allein als letzter auf der Bühne befindet, fällt der Vorhang.
Das mit dem Text versehene Notenautograph von Hugo Moesgèn ist mit 16. VIII. 1916 datiert. Es befindet sich in Privatbesitz.