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Barthes 2 iconRoland Barthes, Rudolf Nurejew und La Berma. Die am 29. Juni 2018 ausgerichtete „Nurejew Gala“ des Wiener Staatsballetts gedenkt einmal mehr des Tänzers Rudolf Nurejew, der, wie nur wenige Persönlichkeiten der Theatergeschichte, weit über seine aktive Zeit hinaus im kollektiven Gedächtnis geblieben ist. Dass die Strahlkraft Nurejews bei einem bestimmten Mann des Geistes andere Assoziationen auslösen kann als bei Millionen anderen, beweisen jene Gedanken, die Roland Barthes nach dem Sehen einer Nurejew-Vorstellung festhielt.

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Werke des französischen Philosophen Roland Barthes (1915–1980) zu den Grundlagen der heute besonders in Mitteleuropa blühenden Tanzwissenschaft zählen. Überspitzt könnte vielleicht formuliert werden, dass die Gedankenwelten von Barthes und die seiner französischen „Kollegen“ die Beschäftigung mit Tanz erst wissenschaftsfähig machten. Mit diesem Wissen muss es – besonders für die Tanzhistorikerin – eine Herausforderung sein, etwaigen Aussagen Barthes’ über konkrete tanztheatralische Ereignisse nachzugehen und seine Reaktion auf diese zu beleuchten.Nurejew Promenade web

Unter den Schriften des französischen Philosophen findet sich eine kurze Betrachtung, die mit „Nurejew und La Berma“ überschrieben ist. In dieser schildert er „sein“ Nurejew-Erlebnis, das, kaum verwunderlich, einen ziemlich anderen Verlauf nimmt als das der Millionen von TheatergeherInnen, die einem Auftritt des (auch) skandalumwitterten Tänzers beiwohnten. Roland Barthes schildert die Begegnung wie folgt:
„Von meinen Freunden als Genie angekündigt, sah ich an einem Abend zum ersten Mal einen großen Tänzer. Das erste Ballett des Abends wurde von einem jungen Tänzer getanzt, den ich reichlich gewöhnlich empfand. ‚Das kann nicht er sein‘, sagte ich zu mir in aller Ruhe. Stars enthüllen sich nicht aufs erste, zudem hätte man zu seinem Auftritt applaudiert. In der Pause erklärte mir ein Freund, dass ich doch Nurejew gesehen hatte. Ich war verblüfft, aber im zweiten Ballett öffneten sich meine Augen und ich sah Figuren dieses Tänzers, die wirklich unvergleichlich waren und die die Ovationen des elektrisierten Zuschauerraums verdienten.“

Barthes 3 webBarthes’ Reaktion auf das Gesehene ist bemerkenswert und wahrscheinlich einzigartig, denn er reagiert weder auf Nurejew selbst – ihn beeindruckt das sinnliche Ereignis keineswegs – noch auf die Kunstgattung Tanz, er reagiert allein auf das Theaterereignis an sich. Immerhin nimmt der Philosoph den Körper des Tänzers wahr, doch im Unterschied zu jenen, die im Zuschauerraum auf der Kante ihres Stuhles sitzen, um dem provokant Sinnlichen näher zu sein, wird Nurejews Körper für Barthes nur zu einem durchlässigen Gefäß, in das seine – Barthes’ – Gedankenwelt einfließt. Diese wird ohne Zweifel durch das Ereignis Nurejew erweitert, die Erweiterung speist sich allerdings nicht durch Gesehenes, sondern durch Gelesenes, das durch das Gesehene ins Gedächtnis gerufen wurde. Immer im „Zustand des Gelesenen“, ist die Assoziation, die Nurejew mit seinem Tanz bei Barthes auslöst, überaus aufschlussreich, denn sie verweist auf den Komplex des „französischen kollektiven Wissens“. Barthes erinnert sich nämlich plötzlich an eine Stelle in Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, die, ganz ähnlich dem berühmten „Madeleine-Erlebnis“, Eigenleben erlangte und als „La Berma-Motiv“ in die Literatur eingegangen ist. (Das „Madeleine-Erlebnis“ bezieht sich auf das französische Sandgebäck, das der Erzähler in Prousts Roman in Tee eintaucht und durch das er, davon kostend, an glückliche Zeiten erinnert wird.)

Das später so benannte „La Berma-Motiv“, bei dem es, vereinfacht ausgedrückt, um die Erwartungshaltung im Hinblick auf ein ersehntes Erlebnis und jene Reaktion geht, die bei der Erfüllung des Ersehnten eintritt, ist für Proust ganz offensichtlich von großer Bedeutung, denn es taucht in dem mehrbändigen Werk gleich dreimal auf: In „Im Schatten junger Mädchenblüte“ wird beschrieben, wie La Berma – gemeint ist die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt – den 2. und 4. Akt von Jean Racines „Phädra“ spielt. In „Die Welt der Guermantes“ taucht La Berma in einem nicht weiter spezifizierten Akt ebendieses Stückes wieder auf. In „Die wiedergefundene Zeit“ ist wiederum von einem Theatererlebnis mit der Schauspielerin die Rede: hier wird die Bernhardt aber durch eine andere große Schauspielerin der Zeit, durch die Réjane, ersetzt.

Beim Sehen Nurejews hat also Barthes die Assoziation „Proust“ und dessen Theatererlebnis Sarah Bernhardt. Er schreibt:
„Und jetzt, 1978, hatte ich plötzlich jene Szene vor Augen, in der der Proust-Erzähler geht, um sich das Spiel der Berma anzusehen. Alles war tatsächlich da: das Begehren, das Gerücht, die Erwartung, die Enttäuschung, der Sinneswandel, die Bewegung im Publikum. Ich ging weg, erstaunt von dem Genie … von Proust.“
 
Und Barthes schließt dann, Proust in seiner Weise interpretierend:
„Wir hören nicht auf, den ‚Recherche‘ (wie Proust das in seinem Manuskript gemacht hat) hinzuzufügen, wir hören nicht auf, etwas hinzuzuschreiben. Und vermutlich bedeutet Lesen: den Text des Werkes anhand unseres eigenen Lebens neu zu schreiben.“

So einnehmend die Großzügigkeit Barthes’ auch ist, den Leser an der von Nurejew ausgelösten Assoziationskette teilhaben zu lassen, so faszinierend die diskutierten in- und übereinander geschichteten Ebenen von Proust und Bernhardt auch sind, so bleibt die Tanzhistorikerin dabei doch etwas ratlos zurück. Grund dafür ist nämlich der naheliegende Schritt, von dem Akt des „Nichtsehens“ Barthes’ ausgehend, auf Methoden und Herangehensweisen der heutigen Tanzwissenschaft zu schließen, in der, wie schon erwähnt, dieser französische Philosoph eine besondere Rolle spielt. Während der Umstand, nicht sehen zu wollen oder zu können, für einen Philosophen unerheblich ist, sollte das „Sehen-Können“ von Aufführung und Ausführenden sowie die Reflexion über das Gesehene in einer Tanzwissenschaft doch eine gewisse Rolle spielen.

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