Die im Rahmen des Festivals „wean hean“ realisierte Produktion von Ödön von Horváths Bühnenerstling „Das Buch der Tänze“ war aus mehreren Gründen von Bedeutung. Die ausgewiesene „Pantomime“ führt in die Zeit der Wiener Moderne zurück, in der dieses Genre Literatur, Musik und Malerei in einem Werk vereinigte, um – wie Horváth 1926 formulierte – durch „tänzerische Darstellung zur Einheit angehoben“ zu werden. Am Beispiel der Produktion und aus Anlass des 80. Todestags des Autors am 1. Juni soll dem Interesse Horváths an Körperarbeit nachgegangen werden.
Das Verdienst, die Aufführung des Horváth-Werks auf den Weg gebracht zu haben, fällt der Geschäfts- und Archivleiterin des Wiener Volksliedwerks zu, der Musikwissenschaftlerin Susanne Schedtler. Sie ist im Zuge einer Anfrage, wie viele Wienerlieder denn Teil von „Geschichten aus dem Wiener Wald“ sind, auf „Das Buch der Tänze“ gestoßen. Die Musik von Siegfried Kallenberg (1867–1944) hat sie in der Bayerischen Staatsbibliothek gefunden, Horváths Text steht - obwohl vom Autor selbst 1926 zurückgezogen - durch den 1988 erschienenen Band 11 der von Traugott Krischke herausgegebenen „Gesammelten Werke“ Horváths zur Verfügung. Für die Aufführung im Bockkeller am 27. April 2018 entschloss man sich, die Musik für das erweiterte „bösze salonorchester“ zu bearbeiten. Und während man sich anderswo vielleicht darauf beschränkt hätte, allein einen Sprecher – in diesem Fall Wolfram Berger – mit dem Sprechpart zu beauftragen, zog man – wie von den Autoren vorgesehen – auch Tänzer hinzu. Sibylle Starkbaum und Silvia Both, die auf zwei gegenüberliegenden kleinen Podien sowie im überfüllten Zuschauerraum agierten, erwiesen sich als eindeutiger Glücksgriff. Sie beschworen just jene Ästhetik herauf, die in der Entstehungszeit des Stücks wurzelt, eine Ästhetik, die wiederum in der Zeit nach 1900 verankert ist.
Aber nicht nur Starkbaum und Both sind mit dieser künstlerischen Körpersprache vertraut, auch Horváth kannte sie offenbar sehr genau. In den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ nämlich spricht der Autor wiederholt nicht nur diese Bewegungsart – die „Rhythmische Gymnastik“ – an, sondern setzt sie sogar als Metapher ein. Mit der Klage Mariannes, man habe sie nicht einmal „Rhythmische Gymnastik“ lernen lassen und habe ihr dadurch vom Elternhaus her den Weg in die Eigenständigkeit verwehrt, räumt Horváth der Rhythmischen Gymnastik jenen hohen Stellenwert ein – und darauf wird weiter unten eingegangen –, der ihr in der Geschichte der Emanzipation der Frau gebührt.
Verschwundenem wiederbegegnet?
Die „Salonfassung“, als die man die Produktion der Pantomime „Das Buch der Tänze“ im Bockkeller bezeichnen könnte, erwies sich schon deswegen als überaus gelungen, weil die Form der Präsentation – Orchester, Sprecher, Tänzerinnen und Publikum befanden sich auf engstem Raum und auf einer Ebene – in herausragender Weise jene neuen Räume evozierte, in die das Theater und der Tanz der Wiener Moderne Zug um Zug vorgedrungen waren: Ateliers, Podien, Ausflugslokale, Ausstellungsgelände. Bemerkenswert auch das sichtbare Interesse der Musiker am eigenen Musizieren, wobei sie selbst sowohl dem üppigen Pathos der Musik wie ihrem oft grotesk-schrillen Charakter nachzuhören schienen. Überaus treffend auch die sinnlich vibrierende Stimmführung Wolfram Bergers, der damit den exotischen Motiven wie auch den Todesmotiven des Textes eine besondere Note gab.
Waren Musikern und dem Schauspieler Musik und Text vorgegeben, für die nur mehr eine Interpretationsweise gefunden werden musste, so fiel den Choreografinnen und Tänzerinnen der schwerste Part der Aufführung zu, denn erst kraft ihrer Gestaltung würde die Konzeption der Pantomime verlebendigt werden. Dafür war die Wahl des Ansatzes von entscheidender Bedeutung. Sollte, wie dies bei den bald nach 1900 aktuellen Pantomimen erwartet wurde, der Text tänzerisch nacherzählt und gedeutet oder die Atmosphäre von Text und Musik aufgegriffen werden? Oder sollte die körperliche Auseinandersetzung mit dem Gegebenen eigene Wege gehen? Es kann kaum überraschen, dass Starkbaum und Both, beide nicht nur in der heimischen Szene durch verschiedenste immer anspruchsvolle Unternehmungen bestens bekannt, letzteren Weg wählten. Wobei es gestattet sei, zu vermuten, dass sich die Choreografinnen zu einem früheren Zeitpunkt ihrer Karrieren wohl deswegen kaum auf das so anspruchsvolle Horváth-Werk eingelassen hätten, weil die Textvorgabe als zu einengend empfunden worden wäre.
Starkbaum und Both treten als schwarz gekleidetes, nicht näher ausgewiesenes Duo auf, dessen Beziehung und Kräfteverhältnis nicht ganz geklärt ist. Ein harmonisches Miteinander wird von einem zufälligen, zuweilen bewussten Nebeneinander abgelöst, um gelegentlich in ein dynamisch-aggressives Gegeneinander zu kippen, das dann zu einem vorübergehenden Halt kommt. Gewechselt wird ständig der durch die dicht sitzenden Zuschauer enge Aktionsraum, gewechselt wird ebenfalls das Kräfteverhältnis zwischen den Tänzerinnen. Der gewählte Ansatz – erzählerisch, episodenhaft und/oder atmosphärisch – scheint seine Impulse vom Rhythmus der Musik, dazu von bestimmten Instrumenten zu erhalten, die wie besondere Ausrufezeichen dem Werk eine groteske Note geben. Diese Groteske wird – von der unverwechselbaren Körperlichkeit der Ausführenden zusätzlich akzentuiert – von den Tänzerinnen in ihre Bewegungssprache aufgenommen.
Osnabrück 1926
Es ist, wie Fotografien dies unter Beweis stellen, die Groteske, die den Bogen spannt zu Günter Hess und ins Jahr 1926. Nachdem „Das Buch der Tänze“ 1922 in München konzertant gegeben worden war, brachte der junge Tänzer und Choreograf Hess das Werk am Stadttheater in Osnabrück zur szenischen Uraufführung. Hess gehörte zu jenen vielen neuen und hochbegabten deutschen Kräften, die nach einer durch das Ende des Ersten Weltkriegs hervorgerufenen tiefgreifenden Umbruchphase in leitende Positionen gelangt waren.
In dieser Phase des Umbruchs formierte sich der Tanz völlig neu. Man überdachte Körpermethoden und -techniken, die Beziehung von Tanz und Musik, dazu Bühnenformate des Tanzes sowie deren Dramaturgie. Die so entwickelte neue Ästhetik bewirkte eine Neuordnung der darstellenden Künste, Bühnentanz wurde fortan als gleichrangige Kunstform angesehen. In Gang gesetzt worden war dies auch durch die „Rhythmusbewegung“ von Émile Jaques-Dalcroze. Ihm war es gelungen eine Bewegungsmethode zu entwickeln, die, „Rhythmische Gymnastik“ genannt, Musik körperlich sichtbar machte. Die Strahlkraft dieser Methode, seit 1911 in der als „Laboratorium der Moderne“ gefeierten „Bildungsanstalt für Angewandten Rhythmus Jaques-Dalcroze“ in Hellerau bei Dresden beheimatet, hatte – ursprünglich für das Klavierstudium entwickelt – insbesondere auf Frauen gewirkt. Für diese wurde die Rhythmische Gymnastik in der Folge zu einem Mittel, den ihnen von der Gesellschaft zugedachten Weg durch Bewegung zu erweitern, ein Weg, der schließlich sogar zu einem selbstbestimmten Leben führen könnte. In der Folge entwickelten sich die musikbezogenen Ideen von Jaques-Dalcroze durch das Raum und Energie betreffende Gedankengut von Rudolf von Laban weiter; sie wurden in Deutschland bis 1933 zur dominierenden Grundlage der Theaterarbeit.
Während man zu Beginn der Zwanzigerjahre an größeren deutschen Theatern aus verschiedensten Gründen noch am alten Bühnentanzmodell Ballett festzuhalten hatte, waren es viele kleinere Häuser – Darmstadt, Duisburg, Beuthen, Mannheim, Breslau, Gera und eben Osnabrück –, wo Vertreter der neuen Ästhetik Experimente wagten. Diese Experimente betrafen unter anderem auch Werke des Musiktheaters, in denen man – nunmehr immer unter dem Primat des Tanzes oder der Bewegung – entweder die Musik, den Textteil oder aber die Ausstattung eines Stücks besonders akzentuierte.
Ein Künstler, der solche Experimente wagte, war das „Multitalent“ (Frank-Manuel Peter) Günter Hess. Vielseitig zum Tänzer ausgebildet, hatte er zunächst eine Karriere als Soloperformer verfolgt und war ab 1924 im Theater tätig. Er tanzte in Leipzig Rollen wie Joseph in „Josephs Legende“ und wurde – erst 22-jährig – 1925 Leiter des Bühnentanzes in Osnabrück. Ein äußeres Zeichen der neuen Ästhetik war die Umbenennung jener Positionen, die den Tanz im Theater betrafen. Aus „Ballettmeister“ wurde „Tanzleiter“, aus „Corps de ballet“ „Bewegungschor“. Letzteres sollte explizit auf eine Nähe zu Rudolf von Laban hinweisen.
Bestimmend für den Plan, Horváths Stück herauszubringen, war wohl der später berühmt gewordene Regisseur Oscar Fritz Schuh, der zu dieser Zeit ebenfalls am Stadttheater Osnabrück tätig war. „Das Buch der Tänze“ sei, so berichtet er in seinen Erinnerungen, Hess und ihm in die Hände gefallen, beide hätten sofort „an das Stück geglaubt“. Dass das Ergebnis dieses „Glaubens“ außerordentlich war, kann durch vorhandene Rezensionen eindeutig festgestellt werden. Dass die Horváth-Literatur beharrlich an einen Misserfolg der Aufführung glaubt, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass man die „Lager“ der Schreiber nicht erkannte. In Anhänger einer alten und einer neuen Tanzästhetik geteilt, beurteilten die Verfechter der Antimoderne die Aufführung freilich negativ.
Was aus keiner der an sich überaus kompetenten Rezensionen entnommen werden kann, ist das besondere Verhältnis Text–Choreografie, das Hess wählte. Ging er in seiner körperlichen Gestaltung von einer Gleichzeitigkeit und/oder einer Interpretation von Musik, Text und Choreografie aus, wählte er ein unabhängiges Nebeneinander, in dem der Text das eine, Choreografie das andere meinte? Oder aber ging Hess von einem Prinzip des Nacheinanders aus, in dem Musik und Text einen bestimmten atmosphärischen Raum hinterlassen, in den die Choreografie „Afterimages“ hineinsetzte? Nicht überliefert ist zudem die choreografische Sprache, die aber, von Abbildungen anderer Arbeiten von Hess ausgehend, als expressionistisch überspitzt bezeichnet werden kann. Nicht überliefert ist zudem, inwieweit das Bewegungsvokabular jene exotischen Motive aufnimmt, die der Text heranzieht. Indirekt aus den Rezensionen abzulesen ist, dass die einzelnen Abschnitte des Werks solistisch, also nicht chorisch angelegt waren. Insgesamt habe sich Hess – so eine Osnabrücker Zeitung – als „Bewegungsregisseur“ bewiesen, wobei man sich nicht in „Abstraktion verloren“ habe. Der Tanz sei „Darstellung, Geschehen, Ausdeutung“ gewesen, „in aller, durch seine Mittel gegebenen Tiefe. Traumhafte Bilder, Verlebendigung der Worte, mit denen der Magier, der Sprecher, Schicksale gestaltet“.
„Wollen Sie mir eine Pantomime schreiben?“ (Siegfried Kallenberg)
Die Tatsache, dass Horváth das Werk nach der Aufführung zurückzog, ist ebenso überraschend wie seine Entstehung, die, wie überliefert, mit der Frage des Komponisten an Horváth begann: „Wollen Sie mir eine Pantomime schreiben?“ Was die Tanzhistorikerin an diesem Satz verwundert, ist mindestens zweierlei: Wieso meint der Komponist Siegfried Kallenberg 1920, zu einem sehr späten Zeitpunkt also, mit der Gattung der „Pantomime“ reüssieren zu können? Und: Wieso weiß Horváth, welche Gestalt – im München der Nachkriegsjahre – eine Pantomime zu haben hat? Dazu muss konstatiert werden: Horváth muss bereits vor 1920 eine genaue Kenntnis der Tanzszene der Zeit im Allgemeinen und der Münchens, wo der Autor seit 1919 ständig wohnhaft war, im Besonderen gehabt haben. Dies ist keineswegs überraschend, war doch München eines der Zentren des Modernen Tanzes, dieser wurde sowohl von den Künsten wie der Gesellschaft als wesentlichstes Ausdrucksmittel der Zeit angesehen.
München hatte schon vor der Jahrhundertwende durch dekorative Bildlichkeit den Boden für eine Tanzszene der Moderne gelegt. Isadora Duncan lenkte nach 1900 das durch die Malerei Vorgegebene in tänzerische Bahnen. Hier etablierte Rudolf von Laban seine erste Schule, die er „Tanz Ton Wort“ nannte, hier debütierte Mary Wigman in einer Zeit, in der sich die Stadt dem Einfluss von Jaques-Dalcroze nicht mehr entziehen wollte. Spätestens nach 1918 hatte sich der Moderne Tanz im gesellschaftlichen Bewusstsein Münchens einen festen Platz erobert. Zum großen Teil von Frauen und neuen Körpermitteln getragen, schien der Moderne Tanz die dringlichsten Anliegen wie die Sehnsüchte der Zeit in hohem Maße zu versinnbildlichen.
Horváth reagierte auf diese Szene mit dem Projekt der Tanzgroteske „Abenteuer im lila Moloch“, das allerdings nicht abgeschlossen wurde. Anhand seines Kommentars zu „Das Buch der Tänze“ kann belegt werden, dass seine Gedanken um das Genre der Pantomime über das Bestehende hinausgingen: Er schreibt: „Unabhängig voneinander beschäftigte uns das Problem der Vertiefung von Dichtung und Musik und die daraus sich ergebende Erweiterung des Begriffes Tanz. Weder die auf mehr oder weniger doch nur bildhafte Handlung gestellte Pantomime, bei der die Musik im Gegensatz zum absoluten Tanz doch nur die Rolle der Begleitung innehat, noch die aus absoluter Musik rein willkürlich geformte Tanzdichtung konnte uns befriedigen. Wir erstrebten eine innige Verschmelzung von Dichtung und Musik, die durch die tänzerische Darstellung zur Einheit angehoben werden sollten. ‚Tänze‛ – weil das Wesentliche trotz der dramatischen Handlung nicht im Pantomimisch-Bildhaften, sondern im rein Tänzerischen liegt. Die Vertonung hielt sich nicht sklavisch an die Bilder der Dichtung, sondern formte allein ihren inneren Gehalt, sozusagen die Atmosphäre. Während also die Dichtung dem Komponisten das Innere gab, gibt sie den Darstellern den Rahmen, die Handlung. Aus Dichtung und Musik schafft der Tänzer die neue Einheit.“
Nicht nur diese an sich überaus aufschlussreichen Aussagen Horváths bedürften einer eingehenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die zu leisten den Rahmen der „Wiener Tanzgeschichten“ sprengen würde. Das Folgende konzentriert sich daher allein auf die „Pantomime“, wobei da wiederum nur auf einen kleinen Teilbereich dieser musiktheatralischen Gattung eingegangen wird. Besonders hervorzuheben an Horváths Text ist, dass der Autor sich hier mit der Funktion des Tanzes innerhalb der Werkkonzeption und -anlage der Pantomime auseinandersetzt und diese offenbar eingehend mit dem Komponisten besprochen hat. Dabei bezieht Horváth eine ganz klare Position: Der Tanz sollte Dichtung und Musik „anheben“. Dies ist als klarer Erweiterungsschritt des Genres zu verstehen, denn der Autor geht damit entschieden über jenes Verständnis Hugo von Hofmannsthals hinaus, das dieser als Hauptvertreter des Pantomimengenres vertrat. Während für Hofmannsthal Tanz immer nur Denkfigur bleibt, spricht Horváth selbst von „angewandter Dichtung“ und weist dem Tanz die Aufgabe zu, die Denkfigur zu verlebendigen.
Reine Spekulation ist (noch) die Annahme, dass Horváth letztlich seine Pantomime deswegen zurückzog, weil er nicht mehr an die Zukunft dieses Genres glaubte. Fakt ist, dass ab den Zwanzigerjahren keine wesentlichen Pantomimenproduktionen mehr entstanden sind.
Ein weiteres Indiz für Horváths genaue Kenntnis der Szene ist, dass er sogar zwischen Varianten der „Körperbildung“ und Formen des Bühnentanzes zu unterscheiden weiß und sich zudem bewusst ist, dass diese kulturellen Ausdrucksformen nunmehr auch die „niedrigeren“ Bevölkerungsschichten und da besonders die Frauen erreicht hatten. Dies kann – in gebotener Kürze – exemplarisch anhand von „Geschichten aus dem Wiener Wald“, aber auch der „Italienischen Nacht“ aufgezeigt werden.
„Rhythmische Gymnastik ist zu guter Letzt nur eine Abart der Tanzerei“
In den „Geschichten aus dem Wiener Wald“, im November 1931 im Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt, übergibt Horváth den Männern des Stücks die Rhythmische Gymnastik als Werkzeug, mit dem Marianne, die weibliche Hauptfigur, Schritt für Schritt zu einer Kreatur herabgewürdigt wird, die ihnen zu Willen ist. Bei diesem Demütigungsprozess gehen sie mit aller Brutalität ihres Geschlechts vor, denn sie wissen, dass – von der allgemeinen Not begünstigt – sowohl Gesetzeslage wie Religion ihnen die Handhabe gibt, auf Höflichkeiten Frauen gegenüber verzichten zu können.
In der Phase des Kennenlernens sagt Marianne zu Alfred: „Ich wollte mal rhythmische Gymnastik studieren, und dann hab ich von einem eigenen Institut geträumt, aber meine Verwandtschaft hat keinen Sinn für so was.“ Und Marianne fügt jenen Satz hinzu, aus dem Wesentliches hervorgeht, nicht nur für sie selbst, sondern ganz allgemein für die Frauen der Zwischenkriegszeit. Die Rede ist von der bereits angesprochenen Möglichkeit, ein eigenständiges Leben zu führen. Dazu Marianne: „Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus.“ Für Marianne symbolisiert die Rhythmische Gymnastik die unerfüllte Sehnsucht ihres Lebens. Immer wieder kommt die Rhythmische Gymnastik zur Sprache, wobei die Trafikantin Valerie sogar einige typische Bewegungen ausführt, dies vielsagenderweise gerade in einer Situation, in der sie von „inneren“ Werten von Männern spricht. Damit wird auf eine Eigenschaft damaliger Körperarbeit angespielt, die darauf abzielt, sein „Inneres“ zu erkunden und es „außen“ sichtbar zu machen. (Auch Horváths Wahl von Innen- und Außenräumen, von „Drinnen und Draußen“ kann in diesem Zusammenhang zu sehen sein.)
Diese „sittliche“ Eigenschaft der Rhythmischen Gymnastik wird in jenem Augenblick von den Männern infrage gestellt, in dem sie beschließen, Marianne müsse Geld verdienen. Mit dem Satz „Rhythmische Gymnastik ist zu guter Letzt nur eine Abart der Tanzerei“ wird zum letzten Schlag gegen Marianne ausgeholt. Das Wort „Tanzerei“ nämlich wird nicht auf dem aus dem Wirkungskreis der Rhythmischen Gymnastik entstandenen Tanz, sondern auf das Ballett bezogen. Horváth spielt damit auf den zu dieser Zeit heftig geführten Widerstreit zwischen dem Neuen der Tanzszene, im Stück repräsentiert durch die Rhythmische Gymnastik, und dem als altmodisch und verkommen eingestuften „Ballett“ an. Das von Frauen als „hochstehend“ Angesehene endet, nach Meinung des Hierlinger Ferdinand, letztlich ja doch in einem Vergnügungsetablissement und der „Unsittlichkeit“ des Balletts. Der Untergang ist vorgegeben, das Ziel der Männer – die ihrerseits mit größter Vorfreude von den dort auftretenden „Nackerten“ sprechen – ist erreicht. Marianne bleibt es nur mehr, zu fragen, was denn der „liebe Gott“ mit ihr vorhabe.
Das Interesse für die Rhythmische Gymnastik gehört aber nicht nur zum Wesen der Marianne – und damit zu dem der Horváth-„Fräulein“ –, sie ist sowohl in der Werkanlage der „Geschichten aus dem Wiener Wald“ wie auch in der von Horváth gedachten Bühnenrealisierung im buchstäblichen Sinn stücktragend, ein Aspekt, der bislang in der Horváth-Rezeption kaum Beachtung fand. Die omnipräsente Musik des vielfach als „episodenhaft“ angesehenen, in einzelne Bilder zerfallenden Stücks wird in den Rezensionen der Uraufführung zwar erwähnt, kaum jemals wird ihr aber der ihr mehrfach zukommende hohe Stellenwert zuerkannt. Zum einen ist sie für den Charakter des Stücks verantwortlich. Der satirische Duktus des Stücks nämlich entsteht ganz klar aus der Diskrepanz zwischen dem Rhythmus sowie der Stimmführung der gewählten „Instrumentierung“ des Textes und dessen Wortwahl, das heißt zwischen der mit der Walzerrezeption verbundenen „Lieblichkeit“ und der ausgeklügelten Bösartigkeit des Textes.
Durch die herangezogenen Walzer ergebe sich aber auch – und dies wird immer wieder betont – ein „Rundcharakter“ des Stücks, womit schon eine, die verbindende, Funktion der Musik erklärt ist. Sie ist der „unsichtbare Regulator“, ein zwar hörbarer aber „unsichtbarer Regisseur“, somit jene Kraft, die die einzelnen Episoden zu einem Ganzen eint. Damit erfüllt die Musik bei Horváth aber jene Aufgabe, die man ihr schon vor dem Ersten Weltkrieg vonseiten der Propagierer der Rhythmischen Gymnastik für die Regie von Sprechstücken zuwies. Der literarische Text solle, so die schon damals geäußerte Meinung, zuerst instrumentiert werden, um dann – den Regeln der Rhythmischen Gymnastik gemäß – bewegt auf die Bühne gebracht zu werden. Einer der wenigen Kritiker, der diesen Aspekt realisiert sieht, ist der Wiener Alfred Polgar. Er schreibt, Heinz Hilperts Regie der „höchst beweglichen Aufführung“ sei „mit sicherstem Dreiviertel-Taktgefühl geformt“.
Keinen Kritiker, auch Polgar nicht, der immerhin – wie dies seine Betrachtungen über Grete Wiesenthal unter Beweis stellen – fähig war, Bewegung zu sehen, interessiert, wer denn für die Choreografie der Maxim-Szene verantwortlich war, wobei jeder der Rezensenten mit kaum verhohlenem Gusto von „Nacktdarbietungen“ schreibt. Da das Deutsche Theater weder hauseigene Tänzer noch Choreografen hatte, engagierte Hausherr Max Reinhardt jeweils das für eine Produktion benötigte Personal. Wer dies im Fall von „Geschichten aus dem Wiener Wald“ war, konnte bislang noch nicht eruiert werden. Wenn eine Spur zu Cläre Eckstein führt, einer führenden jungen Choreografin der Zeit, so deswegen, weil sie offenbar schon seit dem Ende der Zwanzigerjahre mit Horváth bekannt war. Mit ihr verfolgte der Autor das Projekt einer Revue, zu der Kurt Weill die Musik komponieren und Erich Engel die Regie führen sollte. Eckstein choreografierte schließlich die Tanzpassagen der Uraufführung von Horváths Stück „Italienische Nacht“. Im März 1931 am Berliner Theater am Schiffbauerdamm überaus erfolgreich uraufgeführt, gehörten die Tanzpassagen zu den am meisten umjubelten Teilen des Stücks.
Getanzt wurde zum einen, und dies von der ganzen Wirtshausgesellschaft, eine „Française“, darauf folgte – als Höhepunkt der „Italienischen Nacht“ der Ortsgruppe des republikanischen Schutzverbandes – eine Szene, die von den Geschwistern Leimsieder getanzt wird. Die beiden herzigen dreizehnjährigen Zwillingstöchterchen sollten einen „affektierten Kitsch“ ausführen, beginnen aber bald laut zu weinen. Erster Kamerad: „Wir wollen hier kein Säuglingsballett!“ (…); Eine Tante: „Seht wie die Kindlein weinen, Ihr Rohlinge!“; Dritter Kamerad: „Hoftheater!“; Vierter Kamerad: „Hofoper! Oper!“ (…); Die Tante: „Diese Barbaren stören ja nur den Kunstgenuß!“; Vierter Kamerad: „Du mit Deinem Kunstgenuß!“; Dritter Kamerad: „Blume und Schmetterling!“; Erster Kamerad: „Mist! Mist! Mist!“; Kranz: „Oh ihr Kunstbarbaren!“
Dazu sei bemerkt, dass es sich bei „Blume und Schmetterling“ um ein beliebtes Ballettmotiv handelte und dass sogar, einer Mitteilung von Horváths Schwägerin zufolge, Horváth und sein Bruder bei Faschingsfesten in entsprechenden Kostümen aufgetreten seien. (Ob der Autor die Blume oder den Schmetterling verkörperte, ist allerdings nicht überliefert.) Bemerkenswert die Realisierung des Duos, das von Eckstein selbst und ihrem als Mädchen agierenden ständigen Partner Edwin Denby ausgeführt wurde. Das Duo, von dem bislang keine Abbildung gefunden wurde, zeichnete sich durch besondere Groteske aus. Es birgt aber noch eine zusätzliche interessante Note, wurde doch der Amerikaner Denby nach seiner Zeit als Tänzer in Deutschland und seiner Rückkehr in die USA nicht nur ein angesehener Dichter, sondern auch ein als Kultfigur gefeierter Tanzkritiker. Was ihn mit den zu Beginn erwähnten Tänzerinnen und Choreografinnen Starkbaum und Both verbindet, ist die Bewegungsbasis. Starkbaum und Both, Absolventinnen eines an Rosalia Chladek orientierten Studiums am Konservatorium der Stadt Wien, bauen auf jenem Bewegungsfundament, das unter Einbeziehung der Rhythmischen Gymnastik in der Schule Hellerau-Laxenburg von Chladek entwickelt wurde, jenem Institut, in dem Denby in den späten Zwanzigerjahren zum Tänzer ausgebildet wurde.
Lernte man also in der so verdienstvollen Produktion von „Das Buch der Tänze“ eine – wie es in einer Textzeile heißt – „enteilte Zeit“ kennen, so ist das Bewegungsmaterial aus dieser Zeit, einst von Horváth in seinen Stücken herangezogen, auch heute aktuelle Basis nicht nur der hiesigen Tanzszene geblieben.