Die 100. Wiederkehr des Geburtstags des „Componisten“ Gottfried von Einem am 24. Jänner gibt Anlass, über ein künstlerisches Berufsfeld nachzudenken, das der 1918 in der Schweiz Geborene und 1996 im Waldviertel Gestorbene über Jahrzehnte hin (auch) verkörperte: das des Ballettkomponisten. Als Vertreter des Musiktheaters des mittleren 20. Jahrhunderts pflegte Einem nämlich nicht nur die Oper, sondern auch das Ballett. Für ihn sei, so Einem, ein „schweigender Körper“ etwas Wunderbares. „Kein Gesang, keine Sprache, kein Laut: Nur der Körper in seiner ganzen Grazie.“
Trotz der hohen Qualität des zeitgenössischen Tanzes und seines enormen Publikumszuspruchs verharren – und damit seien einige allgemeine Betrachtungen getan – besonders in Mitteleuropa die anderen Künste, die dazugehörigen Interessensgruppen, ein großer Teil der Presse, aber auch die Wissenschaften – noch immer – in einem Bewusstseinszustand, der Tanz als Kunst regelrecht auszuklammern scheint. Einmal mehr war dies in einem Jahresrückblick auf das heimische Kulturjahr 2017 wahrzunehmen, wo – und dies in zehn Kategorien! – Hochgradiges von Minderem getrennt wurde, der Tanz aber überhaupt nicht aufschien. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass das Forum Alpbach 2015 anlässlich eines Jubiläums sich zwar erinnerte, dass man einst bei Einem ein Tanzstück in Auftrag gegeben und dann auch als „Glück, Tod und Traum“ 1954 choreografiert von Yvonne Georgi in Alpbach uraufgeführt hatte. 2015 ließ man es jedoch mit einer konzertanten Aufführung bewenden (im Gegensatz zum Theater Hagen, das die Georgi-Choreografie 2014 erfolgreich wiederbelebt hatte). Dies offenbart ein grundlegendes Unverständnis dem Tanz gegenüber, das auch Einem-Biografen zu eigen ist. So ist es dann auch nicht weiter verwunderlich, dass die Homepage der „Gottfried von Einem Musik-Privatstiftung“ in einem kurzen Überblick über das Schaffen des Komponisten keines seiner Ballette erwähnt! Damit wird aber nicht nur das Werk des Komponisten geschmälert, man verfälscht darüber hinaus auch die Geschichte des Musiktheaters der Zeit an sich. Dies insofern als man das Genre Bühnentanz aus dem Geschehen des gesamten kulturellen Raums ausblendet. Einems Ballette sind aber als Resultat eines intensiven Dialogs mit den Protagonisten der Musiktheaterszene der Zeit und ihrem Interesse am Tanz zu sehen. Dem Lebensmittelpunkt – Berlin oder Wien – gemäß, änderten sich, der jeweiligen Stadtästhetik sowie der politischen Situation folgend, Umfeld und Gesprächspartner. Das nationalsozialistische Regime etwa gab andere Bedingungen vor als das zunächst von den Besatzungsmächten besetzte, dann frei agierende Wien der Fünfzigerjahre. Einems Ballettkompositionen sind auch Spiegel davon.
Wenn im Folgenden auf das Tanzschaffen Einems eingegangen und der Versuch unternommen wird, seine Tanzkompositionen ästhetisch und stilistisch zu kennzeichnen, so geschieht dies mit dem Bemühen, den tanzgeschichtlichen Kontext zu beleuchten, in dem seine Werke eingebettet sind. Dies erweist sich deswegen als schwierig, weil dabei künstlerische wie politische Parameter auf den verschiedensten Ebenen ineinander griffen. Der folgende Überblick versteht sich nicht als musikwissenschaftliche Evaluierungen der Musik Einems oder anderer Komponisten, er fragt nicht, ob und wenn ja, welcher Art von Moderne sie zuzuordnen sind. Immer mit dem Tanz im Blick, geht es allein um das künstlerische Umfeld, aus dem heraus Einems Ballette entstanden und folgerichtig dessen Charakteristika tragen.
Der Theaterbetrieb als Basis
Die Vorstellungen, mit denen Einem 1937 für eine zukünftige Komponistenkarriere nach Berlin kam, waren vage. Da er die geplante Ausbildung bei Paul Hindemith nicht beginnen konnte (er war für das Regime bereits untragbar), nahm er umso lieber ein Angebot eines der mächtigsten Männer des Kulturlebens des nationalsozialistischen Staates an: Heinz Tietjen, seines Zeichens General-Intendant der Staatsoper, dazu „Staatskünstler“ und damit Träger einer der höchsten Würden, die zu vergeben waren. Einem kann sich als persönlicher Assistent des mächtigen Tietjen, dazu als Korrepetitor, frei bewegen. Er nutzt die Gelegenheit und erlernt Handwerk, gerät in den Sog der Oper, aber auch des Balletts, das sich gerade im Umbruch befindet. Dieser ist nicht allein dem neuen Regime geschuldet, das seit 1933 durch die Reichstheaterkammer für das ganze Reich – also seit 1938 auch für Österreich – die verbindlichen Richtlinien vorgab. Die Krise, in die der Tanz schon Ende der Zwanzigerjahre geraten war, resultierte vor allem aus der verheerenden ökonomischen Situation, die dem frei, also außerhalb von Institutionen agierenden Modernen Tanz – die in den Zwanzigerjahren so erfolgreiche, alles beherrschende mitteleuropäische Bewegung – in die Knie zwang. Die bis dahin doppelgleisig verlaufende Tanzszene – einerseits der Tanz solcher „Schöpferinterpreten“ wie Mary Wigman, Harald Kreutzberg oder Rosalia Chladek, andererseits die Körperschaften, die den Theateralltag bewältigten – hatte aus den verschiedensten Gründen wiederholt erhebliche Wandlungen durchlebt. Beide Stränge vereinten sich nun sukzessive zum „Theatertanz“, der, zwar durch den klassischen Tanz grundiert, doch wesentliche Elemente der Moderne aufgenommen hatte. Beide stilistisch so verschiedenen Richtungen scheinen sich auch in Einems Werk zu bündeln.
Spätestens als Einem auch das Training der Tänzer begleitete, lernte er, wie klassischer Tanz „funktioniert“, welche Rolle Atem, Rhythmik und Dynamik spielen, wie die Tänzer und Tänzerinnen im Raum agieren. Er lernte vom dramaturgischen Aufbau zusammengehöriger Bewegungsphrasen sowie von möglichen Konfigurationen und Schrittkombinationen, von Tänzerfächern, von lyrischen Tänzerinnen und Charaktertänzern. Nicht zuletzt lernte Einem die Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers an sich, lernte was Tanz auszusagen vermag und wie Handlung vermittelt wird. Dazu lernte er auch jene Komponisten kennen, die (nicht nur) in und für die Staatsoper für das Ballett aktiv waren.
Jahre später und in anderen Zusammenhängen lässt Einem aus der Vielzahl der Musikerpersönlichkeiten seines großen Bekanntenkreises jene Komponisten heraustreten, die in diesen frühen Berliner Jahren wichtig wurden – Carl Orff, Werner Egk, Boris Blacher, Rudolf Wagner-Régeny – und listet damit gleichzeitig die wichtigen (Ballett-)Komponisten der Zeit auf. Was Einem freilich nicht sagt, ist, dass alle Genannten – sicherlich mit unterschiedlichem Elan – mit den bestehenden Vorgaben der Reichstheaterkammer arbeiteten. Was Einem rückblickend ebenfalls unerwähnt lässt, sind weitere Namen, die gerade für sein Opus 1, das Ballett „Prinzessin Turandot“ eine Rolle spielten. Dazu gehörte Herbert Trantow, der zu Beginn der Vierzigerjahre eine bemerkenswerte Karriere hinter sich hatte. Trantow war zunächst für Gret Palucca tätig gewesen und hatte damit eine ganz andere Ästhetik, diejenige der Schöpferinterpreten, vertreten. Das „Lager“ wechselnd, war er dann als Ballettkapellmeister und Dramaturg an die Staatsoper Berlin gegangen. Dort gelang ihm 1935 mit „Die Barberina“ ein Werk, das, in der Folge als „Deutsches Ballett“ ausgewiesen, ein Herzstück des Repertoires wurde. Besonders in Bezug auf die Werkanlage, konnte Trantow nun seine Erfahrungen an Einem weitergeben.
„Prinzessin Turandot“
So oft auch das perfekte Funktionieren des Überwachungsstaats „Drittes Reich“ mit all seinen Ver- und Geboten dokumentiert ist, so oft sind Ausnahmen von Regeln festzustellen. Die Bühnenrealisierung von Einems „Prinzessin Turandot“ kann als solche Ausnahme bezeichnet werden. Rückblickend nämlich mutet das Unternehmen wie das Projekt Privilegierter an. Da war Egk, der – der Überlieferung folgend – Einem deswegen dazu angeregt hatte, ein Ballett zu komponieren, weil er sein Erfolgsballett „Joan von Zarissa“ von 1940 nicht weiterhin, wie dies 1941 in Berlin der Fall gewesen war, zusammen mit Orffs „Carmina Burana“ aufgeführt wissen wollte. Auf der Suche nach einem Libretto hatte Einems Lehrer Blacher – er gehörte nicht nur seiner Herkunft aus dem „Osten“ wegen, er war in China geboren, zu den weniger Privilegierten – Carlo Gozzis „Turandot“ vorgeschlagen, ein Sujet, das an sich nicht zu den erwünschten der Zeit gehörte. War der Librettist und Ausstatter Luigi Malipiero offenbar ein „möglicher“ Mitarbeiter, so ist die Vergabe der Choreografie an eine gebürtige Russin kaum nachvollziehbar: Tatjana Gsovsky damals in Leipzig als Tanzmeisterin tätig, wurde als Gastchoreografin nach Dresden beordert, um dort Einems Ballett zur Uraufführung zu bringen! Dieser Einsatz der Gsovsky ist umso rätselhafter, war sie doch bereits wegen „artfremder“ Betätigung aus der Reichstheaterkammer ausgeschlossen worden, hatte sich aber spätestens seit der 1943 in Leipzig erfolgten Uraufführung von Orffs „Catulli Carmina“ als eine erste Kraft des Landes empfohlen. Verwunderlich ist auch die große Aufmerksamkeit, die man durch das Drehen des Dokumentarfilms „Premiere der Turandot“ der Uraufführung entgegenbrachte. Filmstills sowie Betrachtungen – Zeitungskritiken waren in dieser Zeit unerwünscht – unterstreichen die Annahme, dass die Bühnenrealisierung mehr als geglückt war. Ein Charakteristikum des choreografischen Konzepts war offenbar die Gegenüberstellung von Individuum (Turandot) und Masse (Volk). „Helle“ und „dunkle“ Figuren führten das Gegenüber insofern weiter, als damit auf hellere Charakterzüge der Protagonistin hingewiesen werden sollte. Eine Polarität wurde bewusst in den angewandten Tanztechniken eingesetzt. Der Klassik der Turandot wurde die geballte Körperschaft des Bewegungschors entgegengesetzt. Turandots Mädchenhaftigkeit – Gsovsky besetzte die Hauptrolle mit ihrer erst 17-jährigen Schülerin Evelyne Marek – stand einerseits im Kontrast zur Grausamkeit des eigenen Handelns, andererseits zur starken Persönlichkeit des Darstellers des Prinzen Kalaf, František Karhánek. Gsovsky ließ die drei Rätsel Narrheit – Liebe – Tod von Paaren oder Gruppen verkörpern, die Handlung fand schließlich „ihre natürliche Steigerung im Triumph der Liebe“. Malipieros Bühnenlösung, war, wie der „Dresdner Anzeiger“ berichtet, von Gsovsky leicht verändert worden. „Sie stellte die Figuren gleichsam auf gläserne Tanzflächen und vor kühlfarbene Kulissen“, was die Leistung der aus dem „naiven Instinkt des Körpermenschen“ agierenden Protagonistin zusätzlich hob. (Marek war nach dem Krieg kurze Zeit in Wien im Hedy-Pfundmayr-Ballett engagiert.)
Die Uraufführung von „Prinzessin Turandot“ brachte allen Beteiligten großen Erfolg. Einem hatte sich mit seinem Werk ganz offiziell in die Gruppe der neuen Ballettkomponisten eingereiht. Lässt das „Unternehmen Turandot“ den rückblickenden Betrachter an sich schon verwundert zurück, so gesellt sich dazu, wenn man eine spätere „Evaluierung“ des Balletts durch einen linientreuen Balletthistoriker der DDR liest, Ratlosigkeit. Eberhard Rebling nämlich schreibt zunächst von der „rhythmisch-gestischen Ausdruckskraft der Musik“, von den „lebhaft-dramatischen“ sowie den „expressiv-lyrischen“ Teilen und resümiert dann, Einem habe mit seinem Werk „mitten im Krieg ein mutiges Bekenntnis gegen Grausamkeit und Tyrannei“ abgelegt. Ob Einem seinerseits, die Machthaber des Jahres 1944 andererseits, dies ebenso gesehen hatten, ist nicht überliefert. Feststeht, dass die nach 1945 angebrochene Zeit, dazu der Ortswechsel, für den Komponisten andere Prioritäten setzte.
„Rondo vom goldenen Kalb“ und „Pas de Cœur“
Die zeitliche Nähe der 1952 erfolgten Uraufführungen von Einems nächsten beiden Balletten – „Rondo vom goldenen Kalb“ in Hamburg, und „Pas de Cœur“ in München – ließe vermuten, die choreografischen Realisierungen der Werke seien auch ästhetisch miteinander verwandt. Das Gegenteil ist der Fall, denn während man in beiden Städten noch bestrebt war, an die Arbeit vor 1933 wieder anzuschließen, waren unter dem Einfluss der Besatzungsmächte bereits unterschiedliche ästhetische und stilistische Merkmale zu bemerken. Fast will es scheinen, als ob Konzeption und Anlage der beiden Ballette das jeweils andere stilistische Merkmal in sich tragen.
Der Entstehungslegende von „Rondo vom goldenen Kalb“ nach, habe Einem der Gsovsky Musik vorgespielt, diese habe mit dem Ruf „Aber das macht noch kein Theater!“ sofort das Libretto zu „drei Nachtstücken“ entworfen, die jeweils, vor zeitgenössischem Hintergrund, den durch die Gier nach Geld ausgelösten Tod zum Inhalt haben, zudem das Thema Individuum/Masse aufgreifen. Dass Gsovsky das Ballett schließlich nie selbst choreografierte, hatte guten Grund. Wie das schon in der Zeit des Nationalsozialismus der Fall gewesen war, wurde ihr Tun nun auch für die neuen Machthaber, der in der DDR regierenden SED, untragbar. Der Begriff, mit dem man Künstler aburteilte, lautete nun nicht „artfremd“, sondern „formalistisch“. Und als „formalistisch“ wurde Gsovskys Versuch, Blachers Ballett „Hamlet“ an der Staatsoper herauszubringen, eingestuft. Dieser Versuch setzte ihrer Tätigkeit in Ostberlin ein Ende. („Hamlet“ kam 1950 an der Bayerischen Staatsoper in der Choreografie von Tatjanas Ex-Ehemann Victor heraus.)
In der Einem-Literatur gilt die Hamburger Uraufführungschoreografie von „Rondo vom goldenen Kalb“, die Helga Swedlund – gleichsam in Vertretung der vorübergehend in Buenos Aires arbeitenden Gsovsky – übertragen worden war, als missglückt. Grund dafür sei vor allem ein geändertes Libretto gewesen. Dieses Urteil, kann nicht nachvollzogen werden, galt Swedlund – sie war von 1940 bis 1942 Ballettmeisterin der Wiener Staatsoper – doch als eine überaus erfahrene Choreografin, zudem stand eine glänzende Besetzung zur Verfügung. Dem ungeachtet, wurde „Rondo vom goldenen Kalb“ in der Folge auf zahlreichen Bühnen gegeben. Fast parallel zu Hamburg kam das Ballett 1952 nach Wien, wo die erfolgreiche Sicht von Ballettmeisterin Erika Hanka half, aus „Rondo“ auch in Wien ein echtes Repertoirestück werden zu lassen. Hanka verfügte über jenes ausdrucksstarke Handwerk, das Gsovsky als tänzerische Basis in ihr Libretto hatte einfließen lassen.
Die Wiener Tänzer zeigten besonders in jenen Passagen, in denen die Charaktere typenhafte Kurt-Jooss-Züge trugen, eindrucksvolle Interpretationen. So etwa Lisl Temple als Braut und Willy Dirtl als Bräutigam. Im zweiten Teil „Schwarzer Tag“ wurde, wie dies ein Kritiker formulierte, das Danton-Schicksal für die Ballettbühne abgewandelt. Eine Volksmenge überwältigt ihre Unterdrücker, nur um von neuen Machthabern beherrscht zu werden. Auch Hanka baute ihre Choreografie auf Kontrasten auf. Der kammerartigen Variante des Themas im ersten Bild stand die als Gruppe geführte Volksmenge des zweiten gegenüber. Im dritten war es die rasende Jagd um den Spieltisch, die im Gegensatz zu den Liebenden, getanzt von Lucia Bräuer und Carl Raimund, stand. Hankas Version blieb in 42 Vorstellungen bis 1961 auf dem Spielplan, sie wurde in der Volksoper, im Theater an der Wien und im wiedereröffneten Haus am Ring gegeben.
Unter dem Titel „Rondo“ kam das Werk Einems, diesmal in der Choreografie von Erich Walter, 1979 im Rahmen der „Wochen zeitgenössischer österreichischer Musik“ nochmals auf die Bühne der Staatsoper. Walter, der sich ganz dem klassischen Tanz verpflichtet fühlte, aber als junger Tänzer die letzte Blüte des Ausdruckstanzes noch selbst erlebt hatte, thematisierte choreografisch eben diese Phase des stilistischen Übergangs des Bühnentanzes. Er tat dies, indem er bewusst Eigenheiten des Ausdruckstanzes, ja sogar Zitate tänzerischer Charakteristika von Persönlichkeiten wie Wigman, Niddy Impekoven und Dore Hoyer in seine Choreografie miteinfließen ließ.
Walter evozierte in seiner Sicht auch jenes Gegeneinander, das Einem selbst 1952 mit „Pas de Cœur“ in München zum Thema eines Balletts – O. F. Regner nannte es „Tanz in eigener Sache“ – erhoben hatte. Zu einem Libretto von Heinz von Cramer waren damals die beiden stilistisch so verschiedenen Richtungen des Tanzes durch einander gegenüberstehende Gruppen auf die Bühne gebracht worden. Dabei stellten sich die Autoren schon durch die Titelgebung – vor allem aber durch den Choreografen Victor Gsovsky und die idealtypische Ballerina Irène Skorik – auf die Seite der Klassiker. Sie betraten damit einen Weg, den Hans Werner Henze, dessen Ballett „Pas d’Action“ am selben Abend uraufgeführt wurde, bereits viel weiter gegangen war. Diesen Weg hatte ihm 1948 ein Gastspiel des englischen Sadler’s Wells Ballet in Hamburg gewiesen. Besonders in Frederick Ashtons Sicht von Igor Strawinskis „Scènes de Ballet“ war Henze der Dreierbeziehung Musik-Bewegung-Raum begegnet und hatte verstanden, dass das Ballettvokabular an sich ausdrucksvoll ist, Ballett daher auch keiner Handlung bedarf. (Henzes „Pas d’Action“ kam 1966 mit verändertem Libretto als „Tancredi“ in der Choreographie von Rudolf Nurejew an der Wiener Staatsoper heraus.)
„Medusa“
Mochten die für das Eröffnungsfest des wiedererrichteten Opernhauses Verantwortlichen bislang weniger mit der für sie an sich uninteressanten Sparte Ballett in Berührung gekommen sein, wussten sie nun endlich, wozu ein Ballettensemble zu unterhalten, gut sein konnte: Seine lohnende Aufgabe sei es, den Bildungsauftrag des Hauses zu erfüllen und sich mit moderner Musik auseinanderzusetzen. Diesem Auftrag kam das Ballettensemble unter der Führung von Hanka mit sachlichem Verständnis und größtem Elan nach. Seit ihrer Auseinandersetzung mit dem „Rondo vom goldenen Kalb“ war Hanka in engem Kontakt mit dem Komponisten gestanden und hatte versucht, ein Einem-Ballett für das Eröffnungsfest 1955 zur Uraufführung zu bringen. Doch obwohl sich Einem längst nicht nur als Opern-, sondern auch als Ballettkomponist empfohlen hatte, entschied sich die Opernleitung für Blacher. Sein „Mohr von Venedig“ wurde dann mit großem Erfolg gegeben.
1957 folgte die Uraufführung von Einems „Medusa“, ein Werk, das in der Chronik des Staatsopernballetts nicht nur durch die Musik, sondern mehr noch durch seine Protagonistin Christl Zimmerl in Erinnerung geblieben ist. Sie war es, die diesem am „Ende der Welt“ agierenden „Ungeheuer mit Schlangenhaaren“ – ihr Blick ist derart, dass ihr Gegenüber zu Stein erstarrt – überzeugend Sinn zu geben vermochte. War es zunächst Benvenuto Cellinis Skulptur gewesen, die Gale M. Hoffman – ein „alter“ Bekannter Einems, der als amerikanischer Offizier wesentlich dazu beigetragen hatte, die Salzburger Festspiele nach 1945 wieder auf den Weg zu bringen – zu seinem Libretto inspirierte, so wurde ein von ihm erstellter Dialog zum Ausgangspunkt für Hankas Choreografie. (Salzburg betreffend, bleibt es verwunderlich, dass Einem sich als Festspielmitgestalter nicht selbst mit einer Komposition für ein Ballett beauftragt hatte.)
Als eine Art Kammerspiel angelegt, erzählt „Medusa“ weniger den überlieferten Mythos, als vielmehr den – dies immer aus dem Blickwinkel der Frau – Seelenzustand dieser rätselhaften Figur. Das Werk erhielt seine Spannung aus dem dynamischen Drive der niemals nur funktionellen, sondern in sich geschlossenen und eigenständigen Musik, der die Stimmung der unterschwellig spürbaren Emotion der Protagonistin gegenüber gestellt wurde. Die vermittelte Intensität des Stücks entstand durch ein prägnantes Schrittvokabular, wobei das Tanzen auf der Spitze als Erkennungsmerkmal für die Monstrosität der Medusa eingesetzt, ihr hoffnungsloses Tun in einem in sich verschobenen, zuweilen fast hängenden Oberkörper Ausdruck fand. Ganz eigene Züge erhielt die Hauptfigur durch einen zusätzlichen Aktionsraum: das bewusste Agieren am Boden. Nicht nur dieses Merkmal, sondern auch der Charakterisierungsansatz an sich sowie der Umgang mit der als Skulptur gesehenen Dekoration in einem sonst leeren Raum, dazu der Einsatz des Lichts, erinnerten an die hochdramatischen Mittel der Tanzstücke Martha Grahams, die beim ersten Gastspiel der Graham-Company 1954 in Wien offensichtlich tiefen Eindruck auf Hanka hinterlassen hatten. Gegenspieler der – wie Einem betont, „schönen Christl“ – waren der ausdrucksstarke Willy Dirtl als Perseus und Richard Adama als Blinder Seemann.
„Die Aufführung der ‚Medusa‘ war sehr gelungen; die Christl ist eine große Tragödin“, so äußerte sich Einem später über die Bühnenrealisierung in der Staatsoper und gab damit einen allgemeinen Konsens wieder. „Medusa“ stand bis 1972 auf dem Spielplan der Staatsoper. In allen 35 Vorstellungen war Zimmerl die Protagonistin, auf Dirtl folgten Karl Musil, Ludwig M. Musil und Franz Wilhelm als Perseus. Gastspiele des Staatsopernballetts brachten das Werk zu den Bregenzer Festspielen sowie nach Monte Carlo und Paris. Bei Galas in London und München präsentierten Zimmerl und Karl Musil den Pas de deux. Eine Fassung des gesamten Balletts in Hankas Choreografie entstand 1966 für das Österreichische Fernsehen. Nachgespielt in Fassungen anderer Choreografen wurde „Medusa“ in Berlin (Tatjana Gsovsky), Prag (Jiří Němeček) und Hannover (Adama).
Die Annahme, Wien würde nach dem großen Erfolg der „Medusa“ Einem nunmehr intensiv pflegen, ist falsch, denn als 1960, also 16 Jahre nach der Uraufführung, endlich sein Erstling, „Prinzessin Turandot“, an die Wiener Staatsoper kam, verschwand das Ballett in rätselhafter Weise nach nur drei Vorstellungen. Die Choreografie stammte von Dimitrije Parlić, der der früh verstorbenen Hanka als Ballettchef nachgefolgt war. (Die hochfliegenden Pläne, Herbert Ross als Choreografen und Salvador Dalí als Ausstatter zu gewinnen, waren fehlgeschlagen.) Die Protagonisten der Wiener Aufführung waren Edeltraud Brexner und Zimmerl in der Titelrolle und Willy Dirtl als Prinz Kalaf. Die geringe Zahl von Aufführungen stand in krassem Gegensatz zu der Tatsache, dass es sich bei „Turandot“ um das am weitesten verbreitete aller Einem-Ballette handelt: es ging über mehr als 30 Bühnen!
Es war der tänzerische Duktus der Einem-Musik, der nicht nur Choreografen immer wieder zu Kompositionen greifen ließen, die an sich nicht für die Tanzbühne gedacht waren. Auch Künstler der Medien Film und Fernsehen wandten sich wiederholt Einem zu. 1955 drehte Kurt Steinwendner zu Einems Musik und der Choreografie von Chladek den Experimentalfilm „Gigant und Mädchen“. Das Tanzspiel „Drei Fabeln des Herrn La Fontaine“ zum „Concerto“ op. 4 wurde 1956 für das Fernsehen des Südwestfunk Baden-Baden in der Choreografie Hankas produziert. Ballette zu „Ballade“ op. 23 und „Orchestermusik“ op. 9 sind durch Georgi (Hannover 1958) bzw. Fred Marteny (Klagenfurt 1975, Seoul 1979, Salzburg 1988) entstanden. 1985 kreierte Bernd R. Bienert für das Wiener Staatsopernballett „Radz-Datz“ zum Liederzyklus op. 69 „Lebenstanz“ nach Texten von Lotte Ingrisch.
In einer Betrachtung der Ballette Gottfried von Einems schrieb 1957 der Komponist und Musikwissenschaftler Karl Heinz Füssl, gemeinsam sei ihnen „tänzerische Anmut und Prägnanz der Musik – trotz hochorganisierter Faktur, die auch von der Musik unserer Tage Gesetze erkennen lässt, die Stilwandlungen und Zeitgeschmack überdauern.“ Dieses Diktum für den Beginn des 21. Jahrhunderts zu überprüfen, könnte eine reizvolle Herausforderung für zeitgenössische Choreografen sein.