„Across, not Over“ heißt ein Tanzstück von Preethi Athreya, das im Rahmen von „[Trans]Asia Portraits“ demnächst in Wien zu sehen ist. Ein Anlass, auch an eine eminente Wiener Persönlichkeit zu erinnern, die in Zusammenhang mit indischer Kunst von weltweiter Bedeutung ist: Stella Kramrisch. Ursprünglich Tänzerin in der frühen Zeit des Wiener Freien Tanzes, ging sie nach Indien, um dort an der Universität indische Kunst zu lehren. Ihre zahlreichen Bücher dazu sind noch heute Grundliteratur auf diesem Gebiet.
Sowohl die Choreografin Preethi Athreya wie auch der Kathak-Tänzer Vikram Iyengar haben in den verschiedensten Medien ihr Verständnis von indischem Tanz dargelegt. Aktuellen Anliegen folgend, ist es die Intention beider, die Aufmerksamkeit auf Materialien indischer Tanzformen zu lenken, sie aus ihrem Umraum zu heben und in neuen Kontext zu stellen. Diese Anliegen mit Analyseverfahren oder Präsentationskonzepten von vor hundert Jahren zu vergleichen, erscheint auf den ersten Blick etwas abwegig. Zumal die Tanzkarriere jener Persönlichkeit – Stella Kramrisch –, die an die Seite der Genannten gestellt werden soll, nur ganz kurz war, und sie sich nach ihrer in den frühen Zwanzigerjahren erfolgten Übersiedelung nach Indien ausschließlich der bildenden Kunst widmete. Liest man aber Kramrischs grandiose Skulptur- und Architekturanalysen, findet man sofort jenes „Besteck“ vor, das auch Preethi Athreya wie Vikram Iyengar heranziehen. Der Ursprung dieses Bestecks ist, zumindest bei der Absolventin des Londoner Laban Centre Preethi Athreya, leicht gefunden. Er liegt in den Bewegungskonzepten des mitteleuropäischen Freien Tanzes, das heißt also im gesteigerten Körperbewusstsein, im genauen Umgehen mit körperlichen Funktionen, mit Bewegung im Raum. In einem Interview mit Preethi Athreya heißt es etwa, schon bei ihrem Training gehe sie von einem „heightened sense of body awareness“ aus und arbeite mit dreierlei Arten von Raum: mit „space within the body“, „space around the body“ und schließlich einem „imagined space“. Wenn Stella Kramrisch in ihrer 1919 (!) erschienenen Dissertation „Untersuchungen zum Wesen der frühbuddhistischen Bildnerei Indiens“ über Skulpturen und ihrem „Umlaufraum“, von der „Triebkraft“ auf diesen Raum, von „emotioneller Räumlichkeit“ als Gegenspielerin „des in den Bildgestalten wirkenden Rhythmus“, aber auch von „Gelenken als Scharnieren“ schreibt, so erkennt man schnell, dass sowohl bei den nun in Wien gastierenden gebürtigen Indern wie der Wienerin, die sich in Indien der Kunst dieses Landes zuwandte, von ein und derselben Basis ausgegangen wird: von Konzepten des Freien Tanzes. Wer aber war Stella Kramrisch? Vor allem aber: welches Ausbildungssystem hat sie mit jenem Besteck ausgerüstet, mit dem sie zunächst den eigenen Körper formte und später auf Körperformen der Skulpturen blickte?
Eine Wiener Tänzerin in ihrer Heimatstadt, später in Indien
Zum Wesen des Freien Tanzes gehörte es, den als „Ganzheit“ gesehenen Menschen im Blick zu haben, ihn nicht so sehr Fertigkeiten zu lehren, als vielmehr ihn in seiner „Totalität“ zu erfassen und zu formen. Mitgedacht wurde dabei sein näherer und weiterer Umraum, das heißt auch andere Künste. Dazu gehörten auch andere – außereuropäische – Kulturen, mit deren theoretischen Grundlagen man sich nun ebenso auseinandersetzte wie mit den Tänzen selbst, die ab den Zwanzigerjahren durch Gastspiele vermehrt in Mitteleuropa zu sehen waren.
Nachdem die 1896 in Nikolsburg/Mikulov geborene und in Wien aufgewachsene Stella Kramrisch sich noch während des Krieges theoretisch mit indischer Kunst beschäftigt hatte, begann sie eine Tanzkarriere, die allerdings nur wenige Jahre umfasste. Trotzdem aber kann diese als exemplarisch für jene neue stilistische Richtung des Bühnentanzes angesehen werden, die sich in Opposition zu dem Bestehenden ab 1900 zu entwickeln begonnen und einen veritablen künstlerischen Umbruch mit sich gebracht hatte: Neu waren Ästhetik, Technik und, wichtiger noch, der Anspruch, sich gleichberechtigt an die Seite anderer Künste zu stellen. Das genannte Bestreben, zum „Wesen“ eines Menschen, des „Ichs“ oder „Anderen“ vorzudringen, sich dem Körper in seiner „Ganzheit“ zu nähern, um ihn in der Folge auch in seine Einzelteile zu zerlegen, konnte auch – und Stella Kramrisch stellte dies in ihrer Dissertation unter Beweis – als Analysemodell für andere Künste herangezogen werden. Ansatz, Aufbau und Anspruch der Dissertation bestätigen dies. In diesem Zusammenhang aber scheint es von besonderem Interesse, welche Tanzausbildung Kramrisch genoss, denn diese bildete offenbar die Basis für ihre Vorgangsweise.
In den Jahren, die Kramrischs erstem von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommenen Auftreten vorangingen (1. Tanzabend veranstaltet von der Zeitschrift „Der Anbruch“, 9. Mai 1919, Wiener Konzerthaus), gab es in Wien bereits einige grundlegend verschiedene Ausbildungsmöglichkeiten für modernen Tanz. Die eine, seit 1912 bestehende, ging von der Musik aus und kann weitgehend als „Jaques-Dalcroze-Schule“ bezeichnet werden. Obwohl Kramrisch für ihre Tänze zunächst immer wieder Musik erster Komponisten heranzog (auch dies ein typisches Merkmal des neuen Tanzes), ist davon auszugehen, dass diese Schule nicht ausschlaggebend für sie war, denn sie wandte sich – als erste Wiener Tänzerin – dem musiklosen Tanz zu. Dies war, nebst der Betonung von körperlicher Bewegung im Raum, zwar Teil der Lehren von Rudolf von Laban, diese waren jedoch schulisch in Wien erst nach 1920 vertreten. Kramrisch ging diesbezüglich also offensichtlich gleiche Wege, denn schon am 15. Februar 1920 veröffentlichte die Wiener Zeitschrift „Der Tanz“ Kramrischs Essay „Der Tanz“. Darin schreibt sie: „(…) Aber ist denn Musik zum Tanzen nötig? Kann der Tanz nicht reines Kunstwerk der Bewegung sein? Es wäre das letzte Ziel der Tanzkunst. Aus sich heraus, aus intuitivem Zwang die suggestive, sich selbst genügende Bewegung zu finden, die in sich geschlossen und organisch ist wie eine Komposition, wie ein Lied und Gedicht (…)“.
Eine weitere Richtung der zu dieser Zeit in Wien vertretenen modernen Ausbildungsschulen basiert auf der Untersuchung der Körperfunktionen. Auf dem Delsartismus nach Genevieve Stebbins/Hade Kallmeyer einerseits und Lehrgut von Bess Mensendieck andererseits aufbauend, war es – so ist aus verschiedenen Indizien herauszulesen – wahrscheinlich jene Schule, mit der Kramrisch in Berührung kam. Eine Schule dieser Art – die seit 1911 in Wien bestehende Delsartismus-Schule Käthe Ulrich – war nämlich, wie dies aus einem Essay in „Die Zeit“ hervorgeht, Kramrischs Doktorvater vertraut. Er, der Kunsthistoriker Josef Strzygowski, schreibt von einem „neuen Geist“, von notweniger „Beweglichkeit des Körpers“, von „harmonischer Gymnastik“, von den sich ganz „frei bewegten“ Körperaktionen. Jede Bewegung sei „gerundet, weich und bewusst“, alle Schritte aus „demselben Prinzip der Körperhaltung und Bewegung geboren“. Eine ganze Mädchenklasse hätte da „innerlich Geschautes“ dargestellt.
Aber das Mitteleuropa um 1900 hatte nicht nur eine (konstruierte) Natur als Pool der Regenration des Menschen vor Augen, auch Indien wurde zu einem Sehnsuchtsort, der im Zusammenwirken mit asiatischem Gedankengut als Grundlage für eine Wiedergeburt angesehen wurde. In den Künstlerkreisen, in denen sich Stella Kramrisch bewegte, befand sich zum Beispiel auch Johannes Itten, der der Mazdaznan-Lehre anhing. Beide, Kramrisch und Itten, waren im selben Rahmen, in der Künstlergruppe „Freie Bewegung“ (Kärntnerstraße 4), präsent (Tanzabend Stella Kramrisch am 24. April 1920).
Die Dissertation von Kramrisch hatte mittlerweile derart beeindruckt, dass sie 1919 als junge Wissenschaftlerin an die Oxford University gesandt wurde. In England begegnete sie Rabindranath Tagore, der sie zunächst an seine „Bildungsanstalt“ in Shantiniketan holte und 1923 an die Universität von Kalkutta vermittelte, wo sie bis 1950 blieb. Ab diesem Jahr setzte sie ihre wissenschaftliche Karriere an der University of Pennsylvania, am Institute of Fine Arts an der New York University und am Philadelphia Museum fort. Eine Rückkehr an ihr altes Wiener Institut kam für die Wissenschaftlerin jüdischer Herkunft offenbar nicht in Betracht.
Indische Tänzer zu Gast in Wien
Ob die im Februar im Rahmen des ImPulsTanz-Special „[Trans]Asia Portraits“ im 21er Haus, einem Museum, gastierenden Inder sich in irgendeiner Form mit Tagores berühmter Bildungsanstalt identifizieren, ist ungewiss. Fakt ist, dass man sich dort – in Opposition zu der Kultur der Briten – intensiv der eigenen Kunst, Kultur und dem Handwerk zuwandte. Genau dies aber tun Preethi Athreya und Vikram Iyengar. Tanz wird hier als „craft“ gesehen, wobei gefordert wird, diese immer neu zu überprüfen. Einem analytischem Bestreben gemäß das Eigene zu ergründen, wird mit einem „carefully chosen set of parameters“ gearbeitet. Preethi Athreya in einem Interview: „I sometimes view my work as the unfolding of a mechanism, with elements popping up, allowing them to be scrutinised and reassigned a new place.“ Und allgemein meint sie – und diese Meinung hätte Stella Kramrisch sicher unterstrichen: „Every discipline has certain paramenters for rigorous practice. These parameters keep shifting and changing, but they do not lose allegiance to their source.“ Und Vikram Iyengar, der der verbreiteten Meinung folgt, eine Tanzform sei je lokaler umso universeller, blickt in seiner Arbeit auf Aufführungssprachen und Rohmaterial, das von ihm neu geformt wird. Beide heutigen Tänzer werden wiederum vollinhaltlich einem Statement von Kramrisch zustimmen, das sie nicht nur als außergewöhnliche Kunsthistorikerin, sondern auch in jener Tanzavantgarde verwurzelt ausweist, der sie einst angehörte: „The Indians consider the human body as a vessel of life force. The ideal in Indian art is to paint the human figure as if it were breathing, or to paint anything in nature as if it were moving – not only gesticulating movement, but the sense of presence, of life, breath, flowing through your body.“
In einem Nachruf der „New York Times“ – Kramrisch starb 1993 in Philadelphia, Pennsylvania – heißt es: „Kramrisch laid the foundations for the systematic study of Indian art“. Nur einige Werke, die Kramrischs Bedeutung begründeten, seien hier genannt: Als wichtigstes Buch wird das zweibändige „The Hindu Temple“, Kalkutta 1946, angesehen, davor schon (1933) wurde in Indien und England „The Indian Sculpture“ verlegt, danach entstanden unter anderem „The Art of India: Traditions of Indian Sculpture, Painting and Architecture“, London 1954, und „The Presence of Śiva“, Princeton 1981. Von den von ihr kuratierten Ausstellungen soll „Manifestations of Shiva“ (Philadelphia Museum 1981) hervorgehoben werden. Kramrischs Strahlkraft reicht aber über ihren Tod hinaus. „Exploring India’s Sacred Art“, herausgegeben 1994, beinhaltet ausgewählte Schriften Kramrischs. 2012 richtete das Research Forum des Londoner Courtauld Institute of Art die Tagung „Stella Kramrisch and Art History in the Twentieth Century“ aus. Und 2013 ließ das Bauhaus Dessau, kuratiert von Regina Bittner und Kathrin Rhomberg, die Ausstellung „Das Bauhaus in Kalkutta“ wiederauferstehen, die von Kramrisch 1922 selbst initiiert und organisiert worden war.
Stella Kramrisch kommen also mehrfache Verdienste zu. Durch ihr Interesse an indischer Kunst hat sie nicht nur Indien die eigene Vergangenheit vor Augen geführt, sondern diese auch in deutscher und englischer Sprache – erstmals unverfälscht und ohne europäische Zutaten – dem Westen nahe gebracht. Darüber hinaus hat sie in einem „cross-over“ europäische Moderne in Indien vorgestellt.
In ihrem bereits 1924 in Hellerau von Jakob Hegner gedruckten Buch „Grundzüge der indischen Kunst“ ist es Kramrisch ein Anliegen, die „Physiognomie“ dieser Kunst zu ergründen. Einige Sätze, die sich in dem Kapitel „Rythmus“ dieses Buches finden und sich auf Shiva beziehen, seien herausgegriffen: „Wenn Siva Nataraja seinen kosmischen Tanz tanzt, dreht sich nicht nur sein Körper im Kreise, sondern seine Glieder gehören ihm kaum mehr an und sind Teil des Tanzes. So halten zwei Arme des Gottes in der Festigkeit und Einstellung ihrer Hände kein Symbol und kein Attribut, sondern den Raum selbst, der von Bewegung durchdrungen wird.“ In dem 36 Jahre später erschienenen Buch „Indian Sculpture in the Philadelphia Museum of Art“ schreibt die ehemalige Tänzerin über Shiva in seiner Manifestation als Tänzer: „The dancing limbs of Śiva are an image of cosmic rhythm swinging from destruction to creation in an aeviternal round which has for its axis the presence of Śiva. The orbit of the dance is the universe; its centre is within the heart of man; its purpose is release.“