Begreift man künstlerischen Nackttanz als eine nach außen getragene Meinungsäußerung, so könnte diese als Kostüm aufgefasst werden, das, je nach Intention, unterschiedlichsten Zuschnitts sein kein. Verfertigt aus den verschiedensten stofflichen und gedanklichen Materialien, wird das Nacktkostüm ganz wesentlich vom Dialog der Tanzenden zum jeweiligen gesellschaftlichen Umraum bestimmt.
Gerade in den letzten Jahren vereinigte die hiesige zeitgenössische Tanzszene eine derartige Menge im Nacktkostüm Auftretender, dass dies nicht nur international auffiel, sondern sogar als Kennzeichen mitteleuropäischen Tanzens gesehen wurde. So beschreibt etwa die schwedisch/indische Tänzerin Rani Nair 2010 Mitteleuropa als einen Ort „where they get their clothes off all the time.“ Die im Rahmen von ImPulsTanz 2015 erfolgte Verdichtung dieses Trends, dazu ein Rückgriff auf die aufreizenden Nacktkostüme der Zwanzigerjahre, geben Anlass zu Überlegungen zum Thema des überaus breit gefächerten Genres des Nackttanzes und somit des Nacktkostüms, des Weiteren und – wahrscheinlich wichtiger noch – zur Frage, welche Zeit und welches Publikum bzw. welche Gesellschaft etwas als „nackt“ ansah.
Ein Spruch des Obersten Gerichtshofes in Washington aus dem Jahr 2000 hilft, die erste nötige Trennungslinie zwischen künstlerischem und nicht künstlerischem Nackttanz zu finden. Er lautet, dass „Nackttanzen keine Meinungsäußerung und deswegen auch nicht durch die Verfassung geschützt [ist]“ und war auf Ärgernis erregende Stripperinnen gemünzt. Nackttanzende wie Yvonne Rainer oder Steve Paxton, deren Tanz immer Meinungsäußerung gewesen war, mochten sich durch diesen Entscheid nicht angesprochen gefühlt haben. Der Schnitt ihrer in den frühen Sechzigerjahren getragenen Nacktkostüme war ihrem hohen Intellekt wie ihrem tänzerisch-technischen Können gemäß: nüchtern, glatt, schmucklos, ohne ausdrückliche Farbgebung, allein auf Bewegung bzw. bewusste Bewegungsreduzierung abgestimmt. Diametral entgegen gesetzt dazu waren jene Gruppen, die, als Rainer und Paxton zu arbeiten begannen, in Wien aktiv waren. Ihnen – den „Wiener Aktionisten“ – gedachte man ausdrücklich im Rahmen von ImPulsTanz 2015. Diese in den Grenzräumen der Künste, in jedem Fall aber bewegt Agierenden – heute würde man sie wohl den Vertretern des zeitgenössischen Tanzes zuordnen – trugen unverwechselbare Nacktkostüme: von Körpersekreten getränkt, mit Innereien „geschmückt“ und grell in den Farben.
Zu diesen so entgegengesetzten Schnitten von Nackttanzkostümen, die verbindliche Mustermodelle geblieben sind, kamen in den Neunzigerjahren noch weitere hinzu, die heute in der Freien Tanzszene zu den am häufigsten getragenen gehören: etwa jenes, das Xavier Le Roy 1998 in seinem Stück „Self Unfinished“ trug. Es ummantelte keinen ganzen, sondern einen fragmentierten Körper und präsentierte, wie man sie auch bei Raimund Hoghe sah, „partielle Nacktheit“. Dieses Nacktkostüm war gewoben aus übereinandergeschichteten Lesarten des darunter befindlichen „Körpermaterials“. Körperausscheidungen (Urin) waren von Jérôme Bel in „Jérôme Bel“ (1995) sogar als Schreibmaterial eingesetzt worden.
Diese grundverschiedenen Modelle von Nacktkostümen wurden in diesem Sommer, jeweils individuell variiert, vermehrt auch von heimischen Tänzern getragen. Nüchtern und schmucklos, dem eines Waldarbeiters ähnlich, jenes von Simon Mayer. Er wählte sein Nacktkostüm als Hilfsmittel, den Volkstanz von der Aura der „volkstümlichen Pflege“ zu befreien. Ebenfalls ganz auf die unverwechselbare Persönlichkeit zugrichtet: die Nacktkostüme bzw. die zugehörigen Aktionen von Doris Uhlich und Christine Gaigg. Uhlich, gehüllt in das Nacktkostüm der eigenen Sinnlichkeit, überbordend, mitreißend und farbenfroh. Gaigg hingegen, selbst nüchtern lesend, ließ ihre Tänzerinnen und Tänzer im Nacktkostüm zur Sache kommen.
Den Genannten ist aber eines gemeinsam: Wahl und Schnitt der Nacktkostüme stehen immer in Spannung zu dem, was die jeweilige Gesellschaft unter „nackt“ versteht. Was also bedeutet zu welcher Zeit „Nackttanz“ und wann wird ein Körper oder Körperteil überhaupt als nackt empfunden?
Nacktmodenschau im Zeitraffer: Drei Wiener Modelle
Der gebotenen Kürze wegen kann hier weder auf den schier unendlichen Reichtum an Varianten des gezielten Ent- und Verhüllens im Laufe der Jahrhunderte noch auf die zuweilen zur Performativität neigende Freikörperkultur um und nach 1900 eingegangen werden, deren Vertreter übrigens meist Männer waren, sehr wohl aber auf die völlig unterschiedliche Wahrnehmung der Gesellschaft von Nacktkostüm und (künstlerischem) Nackttanz. Drei auch in Wien sehr präsent gewesene Tänzerinnen sollen dabei als Beispiele für die so unterschiedliche Wahrnehmung dienen. Dabei scheint es wichtig zu erinnern, dass jede der Genannten in einem ganz eigenen theatralischen Umraum sowie in einem jeweils anderen gesellschaftspolitischen Kontext zu finden ist. Heute am nächsten ist wohl die in den Zwanzigerjahren wirkende Anita Berber. Obwohl sie wahrscheinlich in „normalen“ Vorstellungen nie wirklich hüllenlos auftrat, verstand sie es derart zu provozieren, dass sie einen Beobachter zu dem Aperçu inspirierte, sie trüge „ihre Nacktheit im Gesicht“. Für dieselbe Zeit wären auch – mit Claire Bauroff an der Spitze – eine Reihe von Tänzerinnen zu nennen, die auf Grund von Aktfotos zu „Nackttänzerinnen“ deklariert wurden, jedoch nie wirklich im Nacktkostüm auftraten.
Für die nach 1900 agierende Isadora Duncan galt ähnliches. Schon ihr Kostüm, eine kleine griechische Tunika, erregte in Wien 1902 ein derartig ungläubiges Staunen, dass Loïe Fuller, die Mentorin der Duncan, verwirrt durch die Frage der damals allgegenwärtigen Fürstin Metternich, was für eine Art des Kostüms die Tänzerin hier im Hotel Bristol trüge, nur zu antworten wagte, diese Tunika sei eigentlich ein Probengewand, das richtige Kostüm sei nicht rechtzeitig in Wien angekommen. Letztlich war es aber nicht das Kostüm, das die Duncan zur „Nackttänzerin“ machte, ausschlaggebend dafür war vielmehr, dass sie „barfüßig“ – im Verständnis der Zeit also „nackt“ tanzte. In der Folge wurde der „Barfußtanz“ zu einem abwertend gemeinten Begriff, der lange ins 20. Jahrhundert hineinwirkte.
Als ganz und gar unglaublich aber, „empörend frech“, der Meinung der Zeit eben im Nacktkostüm tanzend, wurde von ganz Wien eine Tänzerin im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wahrgenommen: Maria Viganò. Sie tanzte, detailliert in der (auch im Dialekt schreibenden) Presse beschrieben, in einem Trikot, „das den ganzen Leib umgab“, in drei bis vier „flatternden Röckchen“. Diese flogen in der Bewegung und „ließen den ganzen Körper der Tänzerin in fleischfarbenem Trikot sehen, das die Haut nachahmte, also scheinbar ganz entblößte.“ Dieses Nacktkostüm, das die Viganò überraschenderweise zu „d’Seel von der Wienerstadt“ werden ließ, verlockte nicht nur eine breites Publikum, sondern auch Ludwig van Beethoven. Sein „Menuet à la Viganò“ ist eine kleine Gemme, die darauf wartet, eine Tänzerin von heute in einem vormaligen „Nacktkostüm“ zu begleiten.