Vor zweihundert Jahren, am 9. Juni 1815 wurde die Schlussakte des Wiener Kongresses unterschrieben, die zu einer Neuordnung Europas nach den Napoleonischen Kriegen führte. „Der Kongress tanzt“ wurde zu einem geflügelten Wort für den Verhandlungsmarathon, die im September 1814 begonnen hatte. Diese zweite „Wiener Tanzgeschichte“ ist der prominenten Ersten Solistin der Pariser Oper Emilia Bigottini gewidmet, die in Wien nicht nur durch ihren Tanz bleibende Eindrücke hinterließ.
Die Lust, längst verflossene Affären wiederaufleben zu lassen, bringt sie erneut in aller Munde. Das Bild „Die Tänzerin Emilia Bigottini“, gemalt von dem berühmten Jean-Baptiste Isabey, findet sich in nahezu allen Publikationen über den Wiener Kongress. Gerüchte sprechen davon, sie, die Erste Tänzerin der Pariser Opéra, sei mit Talleyrand mitgekommen, sie wäre von Franz I. selbst empfangen worden, hätte vor allerhöchsten Kreisen getanzt, wäre in eben diesen Kreisen noch engere Beziehungen eingegangen. Im Wien des Jahres 1814 hätte sie, so wurde gemunkelt – privat – nur jenes Leben weitergeführt, für das die Tänzerin schon in Paris berühmt-berüchtigt gewesen war. Napoleon hätte sie, so gab man vor zu wissen, besonders gefördert. Dass die Bigottini nun schon – für die damalige Zeit – nicht mehr die Jüngste war (sie war wohl knapp über dreißig), störte offenbar niemanden.
Bigottinis professionelles Auftreten im Wiener Kärntnertortheater und im Theater an der Wien entsprach dann auch ihrem spektakulären Privatleben (Wohnung hatte sie in der Krugerstraße genommen). Schon ihr Ankommen war aufsehenerregend gewesen, denn die Ankunft der französischen „Ausländer“ – gemeint war der neue Ballettmeister Jean Aumer mit seinen Töchtern, die beide als Solistinnen tanzten, dazu noch Erste Tänzer und eben Emilia Bigottini – war von dem Schreckensruf „Die Franzosen kommen!“ begleitet worden. Damit hatte man vor allem an die keineswegs angenehmen Aufenthalte Napoleons in Wien erinnern wollen.
Die französischen Tänzerinnen und Tänzer, dazu der ausgezeichnete Aumer, erwiesen sich in Wien, so war bald zu erkennen, als anregend, vor allem als Maßstab setzend. Zu einer neuen Ästhetik, zu einem neuen Werkbegriff, zu schon existierenden, nunmehr in Wien einstudierten französischen Balletten, die im älteren italienischen Repertoire des Kärntnertortheaters frische Akzente setzten, kam die Kunst der Bigottini, in der sie ihre brillante (Fuß-)Technik mit größter Schauspielkunst zu vereinen wusste. In dem halben Jahr ihres Wiener Aufenthaltes zeigte sie einen repräsentativen Querschnitt ihres Rollenrepertoires. Seit dem 16. Juli 1814 tanzte sie in Divertissements und in dem mehraktigen historischen Ballett „Antonius und Cleopatra“ ebenso wie in (damaligen) Klassikern, etwa „Zephyr und Flora“, „Telemach auf der Insel der Calypso“ oder „Der Deserteur“, aber auch in Gaspare Spontinis Oper „Die Vestalin“ und August Klingemanns Schauspiel „Moses“. Zu der begehrten Hauptpartie in der brillanten „Tanzsucht“ – dieses beliebte Ballett hatte ursprünglich Pierre Gardel in Paris kreiert – kam eine andere Partie, der auch heute noch in der Geschichte des Bühnentanzes eine besondere Stellung zukommt: Die Rede ist von der Titelrolle in dem Ballett „Nina oder Die Wahnsinnige aus Liebe“, die die Bigottini am 6. November im Kärntnertortheater vor wahrhaft glänzendem Haus tanzte. (1813 hatte Louis Milon für die Bigottini, die seine Schwägerin war, aus der Oper „Nina ou La Folle par Amour“ von Nicolas Dalayrac eine Ballettversion erstellt. Dazu hatte Louis Persuis neue Musik geschrieben.)
Die Wiener Fachwelt war voll der Bewunderung, vor allem begeisterte die Bigottini in der zentralen Wahnsinnsszene. Ihre Interpretation spreche „Verstand und Gefühl“ an, schreibt Adolf Bäuerle, der Herausgeber der „Theater-Zeitung“. Überwältigt analysiert Bäuerle die Rolle, die deswegen als so bemerkenswert angesehen wird, weil sie als wichtige Stufe zur auch heute noch als Herausforderung geltenden Partie der Giselle gilt, die 1841 in Paris kreiert wurde. Bäuerle spricht zunächst von der Mehrteiligkeit der das Ballett beherrschenden Wahnsinnsszene, beschreibt die sehr naturalistische gestische Zeichnung, etwa das Zucken der Lippen, das Zittern der Arme und das Schlottern der Knie. Von größtem Effekt sei der Einsatz eines Rings als Erinnerungsmotiv und Auslöser eines erneuten Ausbruchs des Wahnsinns. „Die lichten Zwischenräume, die nach gewaltigen Momenten, die Spannung der Wahnsinnsszene noch steigerten“, so schreibt Bäuerle weiter, „erhöhen den Werth des psychologischen Studiums unendlich.“
Im realen Leben war es die Bigottini, die an Hand ihrer Liebhaber psychologische Studien betrieb. Für Studien solcher Art war Emilia spätestens seit der 1812 erfolgten Ernennung zur Etoile der Pariser Opéra bekannt. Das „Studium der Männer“ hatte die Gefeierte auch in Wien weiter verfolgt. Dass sie Wien schon Anfang 1815 verließ, also Monate vor dem Ende des Wiener Kongresses, das mit der Paraphierung der Schlussakte am 9. Juni datiert wird – die endgültige Unterzeichnung erfolgte zehn Tage später –, hatte einen triftigen Grund: Bigottini brachte in Paris einen Sohn zur Welt.
In seiner „Geschichte des östreichischen Hofs und Adels und der östreichischen Diplomatie“ merkt Dr. Eduard Behse unter dem Datum 15. Januar 1815 zum Abgang der Tänzerin aus Wien an: „Demoiselle Bigottini hat 40.000 Gulden Wiener Währung mitgenommen und ein Kind, zu dem sich Franz Palffy bekennt, der dem Balg 100.000 Gulden W. W., der Mutter aber jährlich 6000 Francs versichert.“ Seine Leserschaft bedient der Autor zudem mit der Schlussbemerkung: „Wer dieses Geld nicht genug findet, der zähle die sechsunddreißig Jahre der Bigottini dazu.“