2010: Der US-amerikanische Psychothriller „Black Swan“ von Darren Aronofsky mit Natalie Portman in der Hauptrolle erschüttert die Tanzwelt. Ballett – ein psychisch krank machender Beruf? So einen abgründigen Blick in die eigene Kunstsparte wollten viele – wie Hamburg-Ballett-Chef John Neumeier – nicht stillschweigend hinnehmen. Dabei war das Sujet damals reine Fiktion …
Fantastereien eines Regisseurs, die am 17. Januar 2013 von einer realen Gewalttat getoppt wurden: Dem ehemaligen Ersten Solisten und künstlerischen Leiter Sergej Filin wird Schwefelsäure ins Gesicht geschüttet. Moskaus legendäre Ballettkompanie steht in den Negativ-Schlagzeilen ganz oben. Das Bolschoi-Ballett – einst und jetzt Russlands historisch-politische Vorzeigeinstitution – ein Schlachtfeld persönlicher Monstrositäten?!
Um zumindest einen Teil des Augenlichts seines Kollegen zu retten, vermittelte Neumeier den Kontakt zu einer Spezialklinik nach Aachen. Zeitgleich beendeten unweit des grausigen Schauplatzes der britische Regisseur Nick Read und sein Produzent Mark Franchetti ihre Dokumentation über die berüchtigte russische Strafkolonie Nr. 56. Das Team ergriff die unmittelbar sich bietende Chance, im Schockzustand eines kollektiven Traumas mithilfe von Franchettis Erfahrungen als Russland-Korrespondent der „Sunday Times“ fast ein halbes Jahr lang ins Herz der Spitzenkompanie vorzudringen.
Zum Vorschein kamen ihr von alten Seilschaften und Rivalitäten umkämpftes, von Hierarchien und Korruption geprägtes und plötzlich – laut Gerichtsprotokoll aus „Besetzungsgründen“ – von Auftragsterror erschüttertes Machtzentrum. Russlands Marken-Alternative zur Kalaschnikow. Weitere nachdenklich machende, weil teils unverblümte Kernaussagen in „Bolschoi Babylon“ kommen vom Ex-Direktor und früheren Ballettmeister Boris Akimow, den Ballerinen Maria Alexandrowna, Maria Allash und Anastasia Meskowa sowie Filin persönlich.
Entstanden ist eine mit lokalen Nachrichtenbildern und (Tanz-)Impressionen vergangener Tage angereicherte, oftmals spannende und professionell gemachte Doku-Reportage, deren Skript das Leben selbst schrieb. Sonst rücken, wenn Tanz im Mittelpunkt steht, meist kreative Schwierigkeiten oder Leistungen von Choreografen und Interpreten in den Fokus. Während des 87-minütigen Filmverlaufs von „Bolschoi Bablyon“ wird man jedoch zum Zeugen konkreter, tragischer Lebensfakten.
Mit Pawel Dmitrischenko wird letztlich ein Solist aus den eigenen Reihen als Anstifter des Attentats auf Ballettdirektor Filin dingfest gemacht und abgeurteilt (sechs Jahre Zuchthaus mit Zwangsarbeit). Am Bolschoi wird derweil aufgeräumt. Der Kreml greift ein und ernennt Wladimir Urin zum neuen Intendanten. Als neuer Oberboss auch von Sergej Filin, der sich unterdessen zig schweren Operationen unterziehen muss, will er das Haus von alten Missständen befreien und zeitgemäße Unabhängigkeit in künstlerischen Entscheidungen einführen.
Aufklärung und Transparenz zum Trotz: Kurz nach Abschluss der Dreharbeiten muss Filin, der nach mehrmonatiger intensiver Behandlung zurück in sein Amt kehrt, einem Nachfolger – Makhar Vaziev, der in der St. Petersburger Konkurrenz-Kompanie groß wurde – weichen. Das Spiel geht in die nächste Runde. Fragen bleiben offen, zu denen der Film zwar anregt, aber selten Antworten bietet. Wie ist es dem Anstifter des Attentats zwischenzeitlich ergangen? Zum Kinostart am 21. Juli ist er längst schon wieder auf freiem Fuß. Bereit, seine Karriere fortzusetzen. Vermutlich nun nicht mehr in Moskau, sondern an der Newa.
Die Dokumentation über das Säureattentat auf den künstlerischen Leiter des Bolschoi-Balletts Sergej Filin ist seit 21. Juli in deutschen Kinos zu sehen.
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