Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren“, dieser Satz von Pina Bausch dient als Untertitel für Wim Wenders’ Film PINA. 25 Jahre lang hatten der Regisseur und die Choreografin über einen gemeinsamen Film gesprochen und nach einer Lösung gesucht, wie man Bühnentanz wirkungsvoll im Film inszenieren könnte. Das 3D-Kino brachte die Antwort. Im folgenden Interview spricht Wim Wenders (Regisseur von Filmen „Paris, Texas“, „Himmel über Berlin“, „Buena Vista Social Club“) über seine Erfahrungen – mit dem Tanz, mit der Technologie, mit dem Tod und der Trauer.
Kurz vor dem geplanten Drehbeginn ist Pina Bausch plötzlich verstorben. Wie waren ihre Originalpläne für den Film?
Pina und ich haben ein sorgfältiges Konzept vorbereitet, haben 2007 begonnen konkret zu planen, haben erstmals die vier Stücke ausgesucht, die wir unbedingt filmen wollten und diese auf den frühest möglichen Spielplan gelegt. Das war im Sommer 2007 für Herbst 2009 möglich. Wir haben „Le sacre du printemps“, „Kontakthof“, „Café Müller“ und „Vollmond“ für die Herbst/Wintersaison 2009/10 auf den Spielplan gelegt und die Dreharbeiten für diese Zeit festgelegt. Das hat mir ordentlich Zeit gegeben mich in das 3D reinzufuchsen und das zu entwickeln und zu testen. Darüberhinaus, außer den Stücken, hätte ich viel mit Pina selbst gedreht, ich hätte mit Pina Probenarbeiten gedreht, ich hätte mit Pina vor allem die überaus wichtigen Korrekturen gedreht. Nach jeder Aufführung hat Pina am nächsten Tag vier, fünf Stunden lang alles korrigiert. Das ist eine sehr, sehr interessante und hochwichtige Arbeit gewesen, weil man da auch am meisten verstanden hat, wie genau Pina geguckt hat. Wir wären mit Pina durch die Weltgeschichte gereist, wären im Frühjahr 2010 auf eine Tournee nach Südamerika und Asien mitgereist. Pina hätte vor der Kamera gestanden, bei den Aufnahmen der Stücke neben mir hinter der Kamera. Ich hätte Pina auch in der Stadt gedreht, in Wuppertal. Ich wollte auch viel erfahren über Pinas Blick. Pinas Inspiration war ja oft genug das Beobachten von Menschen auch in ihrer eigenen Stadt.
Ich hatte Pina von Anfang an versprochen, wir machen keinen biografischen Film. Das wollte sie nicht, sie hat nie ein großes Aufheben um ihre Person gemacht. Sie wollte ihr Privatleben nicht vorkommen lassen. Also, das war die erste Regel: keine Biografie, aber eine Art Biografie ihres Blicks, ihrer Arbeit.
Die andere Regel war: keine Erklärung. Pina hat der Sprache nie besonders getraut. Sie meinte immer, sie verrät ihre Arbeit, wenn sie darüber redet. Pina wollte nichts interpretieren oder erklären. Das habe ich ihr auch versprochen: „Ich stelle dir keine einzige Frage, wo du irgendetwas erklären musst. Wir machen keine Interviews.“
Nach diesen Regeln haben wir das Konzept gemacht und dann war von einem Tag auf den anderen kurz vor Drehbeginn das Konzept nicht mehr möglich. Pina war auf einmal nicht mehr da. Ein Schock für alle. Keiner hat sich von ihr verabschieden können, keiner ihrer Tänzer, niemand. Wir haben den Film annulliert. Ich habe einfach den Stecker gezogen. Das Konzept war so auf Pina aufgebaut, das schien unmöglich, einen Film weiter machen zu wollen. Ich war auch zu enttäuscht. Wir hatten es dann doch zu spät angefangen. Wenn man 20 Jahre lang etwas gemeinsam machen will ... das war dann so eine bittere Enttäuschung, dass ich gesagt habe, ich mache es jetzt nicht mehr.
Und wie kam der Film dann doch zustande?
Dann waren es die Tänzer, die gekommen sind und gesagt haben: „Wim, wir spielen aber jetzt die Stücke, die ihr beide ausgesucht habt und auf den Spielplan gestellt habt. Wir fangen an zu proben. Die jüngeren unter uns sind noch von Pina eingearbeitet, Pinas Blick ist noch auf allem noch drauf. Wir machen jetzt diese vier Stücke und wer weiß, ob wir sie zum letzten Mal machen. Die Zukunft des Tanztheaters war damals, im Herbst 2009 ungewiss. Und eigentlich hat sich Pina das so sehr gewünscht, dass ihr gemeinsam eine andere Sprache findet, um das aufzuheben. Und Pina selbst hat gesagt, das geht jetzt eigentlich nicht, dass du nicht mitfilmst. Wir sind ja sogar auf die Bühne gegangen an dem Tag, als Pina gestorben ist. Pina würde das erwarten von uns. Pinas Rede war immer: ihr müsst tanzen. Und wenn man das durchdenkt, heißt das eigentlich, du musst drehen.“
Das habe ich dann eingesehen. Dann sind wir von einem Tag auf den anderen zurück in die Vorbereitungen und haben Hals über Kopf die Stücke gefilmt und zwar in Gänze, sorgfältig, von vorne bis hinten, mehrfach. Und ich bin jetzt im Moment im Schneideraum und schneide die Stücke durch – für den Film habe ich natürlich nur Ausschnitte gebraucht. Aber jetzt machen wir die ganzen Stücke, weil Pina sich das gewünscht hatte.
Und das gab natürlich noch längst keinen Film. Dann kam die große Frage, jetzt haben wir das angefangen, aber wie machen wir jetzt einen Film daraus. Wie füllen wir das große Loch, das Pina hinterlassen hat? Das hat eine Weile gebraucht ... Ich hatte schon angefangen die Stücke zu schneiden, um auch zu sehen wie schneidet sich dieses dreidemensionale Material und dann habe ich allmählich bemerkt, man müsste, um einen Film zu bekommen, Pinas eigene Arbeitsmethode anwenden. Und diese ureigenste Methode war – so hat sie alle ihre Stücke entwickelt – ihren Tänzern tausende von Fragen zu stellen. Monatelang, um ein Thema herum Fragen zu stellen und die Tänzer durften halt nicht mit Sprache antworten, sondern nur mit Gesten und improvisierten Tanzbewegungen. Daraus hat dann Pina, mit immer insistierenderen, immer tiefer bohrenden Fragen ihre Stücke entwickelt.
Das muss ich auch so machen. Ich habe ja immer noch die Tänzer. Das ist ja Pinas Orchester. Pinas Blick liegt noch auf jedem drauf und dann habe ich sie alle nach Pina befragt und auch mit der Regel, sie durften nur mit Tanz antworten. Nicht mit improvisiertem Tanz, denn ich bin ja kein Choreograf, das hätte ich nicht bewerten oder beurteilen können. Sondern mit etwas, das sie ganz besonders mit Pina verbunden hat, was sie mit Pina erarbeitet waren, was sie entweder in einem früheren Stück enthalten ist oder auch oft genug eben nicht enthalten war. Wo sie manchmal wochenlang mit Pina gearbeitet hatten und dann war es doch nicht benutzt worden.
Und so hat jeder Tänzer eine Antwort erarbeitet und das wurde dann der Hauptteil des Films, die getanzten Antworten ihres Orchesters zu „Wer war Pina?“, „Wie hat Pina geguckt?“ „Was war das Besondere an Pinas Blick?“
Die Tänzer waren noch unter dem Eindruck des plötzlichen Verlustes. Wie stark haben Sie das bei den Dreharbeiten empfunden?
Man muss schon sagen, dass das in gewissem Sinne, eine Art Trauerarbeit war. Im wahrsten Sinn des Wortes. Das war, im nachhinein, eine ganz wichtige Phase für dieses Ensemble, für all diese Menschen, für diese kleine utopische Menschheit, die Pina um sich versammelt hat, um damit umzugehen. Die waren kopflos nach Pinas Tod, hilflos, verstört und diese gemeinsame Arbeit an den Stücken und diesen Antworten auf die Fragen zu Pina hat ihnen allen geholfen, damit umzugehen. Und weil Pina selbst kein Kind von Traurigkeit war, Pina hat gern und viel gelacht, ist auch unsere Trauerarbeit oft genug keine traurige Arbeit gewesen. Das war oft genug auch in der Erinnerung an Pina eine sehr vergnügliche Arbeit. Ich glaube dieses eine Jahr, das wir zusammen verbracht haben, die Tänzer und ich, hat für sie auch vieles richtig gestellt. Sie gehen jetzt mit einer ganz anderen Freude und auch Verantwortungsbewusstsein in die Welt und wissen jetzt, sie tragen diesen Schatz und es liegt wirklich an ihnen das in die Welt zu tragen. Und sie werden das jetzt auch langfristig weitermachen, inzwischen mit einer ganz anderen Haltung als in dieser verstörten Phase unmittelbar nachdem sie ihren Kopf verloren haben. Der Film hat also auch diese Funktion gehabt.
Wie sehen Sie den die Zukunft des Tanztheater Wuppertal? Wie kann das weitergehen?
Im Moment machen sie das mit großer Begeisterung. Das Tanztheater macht im nächsten Jahr das größte Unternehmen, das es je in seiner Geschichte gemacht hat. Es ist in London bei den Olympischen Spielen und spielt zehn Stücke von Pina Bausch. Hintereinander in den vier Wochen des Olympischen Sommers im Sadler’s Wells Theatre. Die haben alle so eine Begeisterung und spielen das inzwischen alles so hinreißend. Pina hatte ja zum Glück das System, dass es für jedes ihrer Stücke auch zwei bis drei Tänzer gab, die ihre Assistenten waren, die dafür zuständig waren und die Stücke gut kennen und gut bewerten können.
Meinen Sie, dass PINA dem Tanztheater Wuppertal eine zweite Karriere eröffnet wie es bei den kubanischen Musikern in Ihrem Film „Buena Vista Social Club“ der Fall war?
Ich habe den Film ja nicht für die Pina Bausch Aficionados gemacht, die die Arbeit kennen und die ohnehin wissen, was für eine herrliche, einzigartige Arbeit da drin steckt, sondern ich habe ihn vor allem für die Leute gemacht, die nicht das Privileg hatten, das Tanztehater mal live zu sehen. Und ich haben ihn gemacht mit dem Gefühl: „Was wäre aus meinem Leben geworden, wenn ich das nie gesehen hätte?“ Und das wäre so ein fürchterlicher Verlust, da wäre ich soviel ärmer gewesen, dass ich den Film für die gemacht habe, die über ihn diese Sprache entdecken können, auch diese Freiheit, diese ansteckende Freiheit, die in dieser Arbeit steckt.
Im Moment – der Film läuft ja in Deutschland supergut – kommen sehr viel junge Leute, die Pina nie gesehen haben und das ist eine große Freude, dass der Film eine solche Begeisterung und Entdeckerfreude dafür auslöst.
Mit dem Film haben Sie Erfahrungen auf verschiedenen Ebenen gemacht. Wie können Sie sie charakterisieren?
Absolut. So eine Erfahrung habe ich noch nie bei einem Film gemacht. Ich habe noch nie versucht einen Film so radikal visuell zu machen. Letzten Endes ohne ein einziges Wort, die paar Sätze, die noch dazu gekommen sind am Schluss, war noch ein Nachgedanke. Wir haben auch alle diese Portraits der Tänzer stumm gedreht. Die Absicht war eigentlich einen komplett stummen Film zu machen. Erst im Nachhinein habe ich dann aus meinen Gesprächen mit den Tänzern ein paar kleine Sätze benutzt, aber auch nicht zu erklären und zu interpretieren, sondern die Arbeitsmethode ein bisschen deutlich zu machen. Einen Film, der so wenig auf Sprache vertraut, habe ich noch nicht gemacht.
Sie haben die TänzerInnen aus dem Studio, aus dem Theater in öffentliche Plätze, in der Natur, auf Verkehrsinseln, in die Schwebebahn, in Tunnel, geführt, wo Sie ihre Soli, ihre Erinnerungen an Pina getanzt haben. Warum?
Wir haben lange daran gearbeitet, dass jeder diese Antwort entwickelte auf meine Frage nach Pina. Und das waren dann sehr schöne Antworten, sehr komplexe Antworten. Einige haben zwei bis drei Antworten vorgeschlagen, andere haben es im Duett gemacht und dann habe ich jeweils eine ausgesucht. Ich dachte dass man die Schönheit, die Wahrheit, die Klarheit jeder getanzten Antwort besser rausbringen könnte, wenn man für jede Antwort einen spezifischen Raum finden könnte, wo das hingehören würde und wo der Ort das selbst noch akzentuieren und herausarbeiten könnte. Und habe dann für jede dieser 30 Soli einen spezifischen Ort gefunden, in Wuppertal oder in der Umgebung. Und in diesem Fall auch einen Hauptwunsch von mir befriedigen können, nämlich dass diese kleine Stadt Wuppertal auch eine Hauptrolle spielt in diesem Film. Sie hat Pina immerhin 35 Jahre lang eine Herberge gegeben, hat diese Arbeit auf einzigartige Weise unterstützt. So eine Arbeit, wie Pina sie gemacht hat, hätte man nie in einer Großstadt machen können. Niemand hätte diese Werk in Paris, London, Wien oder Berlin machen können. Das ging nur in so einer kleinen Industriestadt, die Pina ja auch komplett in Ruhe gelassen hatte. Anfangs gabs Krach, Pina hat viel Empörung hervorgerufen, als sie ihr Tanztheater begonnen hat. An Schluss haben die Wuppertaler ihre Pina Bausch geliebt wie sonst nichts, sind religiös jedes Jahr in das neue Stück gegangen. Und diese besondere Beziehung von Pina zu ihrer Stadt und ihrer Umgebung wollte ich in diesem Film für Pina schon mitspielen lassen. In dieser Hommage an Pina musste die Stadt vorkommen. Daher war diese Idee, die Tänzer rauszuholen aus der Bühne in die Stadt schon die Richtige. Es war auch eine Idee, die Pina selbst nahegelegt hat.
Sie haben die Tänzer nach ihren persönlichen Erinnerungen an Pina gefragt und diese auch im Film verwendet. Welche ist ihre prägende Erinnerung an sie?
Meine Erinnerung an Pina ist auf jeden Fall immer dieses Augenpaar, das mich anschaut. Der Blick von Pina, den habe ich ja fast ein Vierteljahrhundert auf mir gespürt, jedes Jahr wieder, manchmal mehrmals im Jahr, wir haben uns ja oft gesehen. Wir waren auch sehr vertraut miteinander. Ich habe Pina auch immer angesehen wie die ältere Schwester, die ich nie hatte. Wir haben viel miteinander gelacht. Es gab ja eine Menge Leute, die vor Pina einen Haidenrespekt, eine Ehrfurcht hatten. Das Problem hatten wir nicht, wir hatten immer ein ganz offenes, herzliches und ehrliches Verhältnis. Und ich habe vor allem Pinas Blick vor Augen. Dieses Augenpaar hat einen angeschaut wie kein anderes Augenpaar. Man war von Pinas Blick wirklich durchdrungen. Sie hat einem wirklich tief ins Herz geschaut.
Pina hat natürlich auch ihre Tänzer so angeschaut und natürlich war sie auch streng. Bei der Arbeit mit den Tänzern ist mir auch klar geworden, welche Arbeit Pina bei der Auswahl ihres Ensembles gemacht hat. Dass sie nicht nur ausgezeichnete Tänzer sind, sondern wirklich einzigartige Menschen, die eine Fähigkeit haben, die auch nur wenige Schauspieler haben, nämlich, sich komplett zu öffnen und eine Bereitschaft gehabt haben, Pina ganz tief in sich hineinschauen zu lassen. Pina wollte ja aus jedem das Beste herausholen und das Beste holt man nicht nur mit Friede, Freude, Eierkuchen. Wenn man jemanden dazu bringen will, sein Bestes zu geben, muss man insistieren, man muss auch manchmal ganz schön hart sein, um durch Widerstände durchzukommen. Aber diese Härte war bei Pina auch immer gepaart mit einer großen Liebe zu diesen Menschen. Dass Pina zwar sehr hart war, mit sich selbst ja noch mehr als mit anderen, aber dass alle auch wissen, was sie dadurch in ihnen bewirkt hat.
Die künstlerische Dimension der 3D-Technologie in PINA hat auch 3D-Skeptiker überzeugt. Wie stehen Sie zu dieser Technologie?
Die Technik ist ja mehr als eine Technologie. Sie ist ja de facto wirklich eine neue Sprache, ein neues Medium. Es hat dem Kino eine ganze Dimension dazugefügt, und weil es bisher nur zwei gab, ist drei schon mal ziemlich viel mehr. Das Kino hat hundert Jahre so getan, als würde es den Raum beherrschen, mit tausend Tricks, Kamerafahrten, Trolleys und Schienen, man konnte Kameras in Autos stecken, auf Hubschrauber montieren und dadurch hat man immer die Illusion geschaffen, der Raum steht zur Verfügung. Aber letzten Endes ist er immer auf einer zweidimensionalen Leinwand gelandet und war deswegen eine reine Behauptung. Und jetzt kann man rein in den Raum. Jetzt ist die Leinwand aufgerissen und ist wirklich ein Fenster geworden und man kann bis zum Horizont gucken und sogar vor der Leinwand etwas sehen. Also, es ist wirklich eine neue Sprache, nicht nur eine neue Technologie.
Und diese Sprache darf man nicht den Blockbuster-Kinos und den großen Studios überlassen. Die nehmen die Sprache auch gar nicht ernst, die sind froh, dass sie damit viel Geld verdienen und ansonsten machen sie damit aber nichts. Sie lassen sie brach liegen. Man muss diese Sprache erforschen, muss gucken, was kann man damit alles erzählen. Meines Erachtens ist diese Sprache die ideale Sprache nicht für fremde Planeten, sondern für unseren eigenen Planeten. Unseren Planeten anders zu entdecken und die Leute mitzunehmen, an die Hand zu nehmen, in die Lebens- und Arbeitswelt von anderen Menschen zu führen, ist fantastisch. Es ist, meines Erachtens nach das ideale Handwerkszeug für den Dokumentarfilm der Zukunft. Und man kann natürlich auch erzählerische Sachen damit machen. Man muss sie nur erfinden, die Geschichten, die man darin erzählen kann. Was es bis jetzt gibt, bis auf das eine Meisterwerk „Avatar“ hat ja nichts dazu erfunden. In allen anderen Filmen, die ich bis jetzt gesehen habe, ist der Umfang des Erzählens nicht vergrößert worden. In den Animationsfilmen schon. Da sind auch sehr schöne, fantasievolle Geschichten entstanden. Aber in real life? Niemand hat bis jetzt auch nur die geringste Anstrengung gemacht, dieses Medium einmal ernst zu nehmen.
Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich in einem 3D-Film war und der Film ließ einen offenen Blick zu. Im Film wählt ja normalerweise wählt die Kamera den Blick, hier war es offen. Teilweise hatte ich das Gefühl wie bei einem Theaterbesuch, wo ich mir als Zuschauer den Blick wähle.
Das erste, was ich meinem Stereografen (das ist ein neuer Beruf) Alain Derobe gesagt habe, war, dass ich nicht einen 3D wie es ihn bis jetzt gibt. In meinem Film soll die 3D nicht die Attraktion sein. Die Attraktion soll einzig und allein der Tanz sein und Pinas Arbeit. Und das 3D soll man möglichst nach zwei Minuten vergessen. Das muss natürlich sein, dass darf sich nicht in den Vordergrund drücken, das darf nicht voller Effekte stecken. Das soll sich vergessen machen.
Wir haben angefangen, im Prozess des Drehens, die Stücke aufzuzeichnen. Wir haben mit Pina sehr viel gesprochen, wie man das filmen kann. Ihr war schon sehr daran gelegen, dass man die Blickrichtung beibehält im Großen und Ganzen. Sie hat gesagt: „Ich habe das für das Publikum gemacht. Die ganze Choreografie, die Emotionen, das geht alles nach vorne hin, zum Zuschauerraum. Erhalte mir das bitte.“ Und daher haben wir ziemlich konventionell angefangen, die Stücke zu filmen, auch zum Teil in Totalen, weil auch in der Totale ist der Raum da und sind allmählich immer näher rangegangen, sind dann mit der Kamera auch auf die Bühne gegangen und haben damit auch die Architektur der Stücke anders begriffen durch die räumliche Darstellung. Und sind näher an die Körperlichkeit gekommen. Man spürt ja die physische Präsenz der Tänzer dann doch ganz, ganz anders und kann die Zuschauer in einer ganz privilegierten Art mit reinnehmen, mitten in die Stücke rein.
Aber hin und wieder ist es auch gut, dass man den Überblick hat, dass man die ganze Bühne sieht. Das sind ja zum Teil gewaltige Besetzungen. Bei „Sacre du printemps“ sind über 30 Leute auf der Bühne und die will man manchmal auch in ihrer Gesamtheit sehen, um die Choreografie genießen zu können.
Man hat das Gefühl, die Kamera tanzt mit. Haben Sie selbst Tanzerfahrung?
Ich bin ein begeisterter Tänzer, aber eher auf Partys. Auf der Bühne bring ich nichts hin. Ich tanze gerne. Wir haben auch mit dem Ensemble mehrfach gefeiert, bei Drehschluss und als der Film rauskam haben alle die ganze Nacht durchgerockt, bis alles durchgeschwitzt war. Aber auch da lernt man Bescheidenheit, weil auch das können die besser.
Jüngere neurowissenschaftliche Studien sagen, dass wenn wir Tanz sehen, tanzen wir mental mit.
Das kann ich bei Pinas Tanztheater nur bestätigen. Ich habe Stücke von ihr gesehen, wo ich hinterher Muskelkater hatte vom Zugucken. Ich hatte das Gefühl, das spricht von meinem eigenen Körper, ich hatte das Gefühl, das geht mich was an, das handelt mit von mir selbst. Und ich bin da so involviert, wie mich noch nichts involviert hat, weder auf der Bühne noch auf der Leinwand. Pinas Arbeit hat ja so etwas Ansteckendes in sich, wo man denkt: „Das kommt ja nicht nur aus den Körpern der Tänzer auf der Bühne raus, sondern auch aus meinem eigenen Körper.“ Und mit den Tänzern kann man sich anders identifizieren, das sind ja nicht nur Athleten wie im klassischen Tanz. Das sind kleine und dicke und dünne und alte und junge, das ist ja die ganze Menschheit. Pina hat uns ja den Tanz zurückgegeben aus der Kunstwelt des Balletts.
Zwischen dem Aufwand der Produktion und dem Risiko, wie ist die Bilanz?
Es war ein Abenteuer. Als wir angefangen haben vorzubereiten sowieso, selbst als wir angefangen haben zu drehen, haben viele Leute gesagt: „Ihr spinnt“. „Avatar“ war noch nicht im Kino, wir haben monatelang gedreht, bevor er in die Kinos kam. Eigentlich war es eine unbekannte Landschaft, ob es die Kinos geben würde. Alle Leute, die mitfinanziert haben, haben immer nur wissen wollen: „Ja gibt es das auch normal - normal hieß flach - zeigen?“ Und nur wenn das normal ginge, hat das auch einen Sinn. Es hat ja niemand geglaubt, dass es 2011 so viele Kinos geben wird, die das schon können. Und es war ja auch in vieler Hinsicht eine Pionierarbeit: die Technik war noch nicht ausgereift. Als wir das erste Mal getestet haben, sind mir die Haare zu Berge gestanden. Die habe ich Pina nicht zeigen können. Pina hätte sich grausend abgewandt.
Meinen ersten Test haben wir in den Straßen von Paris gedreht. Mein Assistent hat einfach die beiden Kameras, die dieses System hat, rausgestellt und mein Assistent ist vor der Kamera hergelaufen, hat mit dem Arm einen großen Bogen gemacht und sah auf der Leinwand aus wie eine indische Gottheit mit vier Armen. Und beim Laufen hat er viele Beine gehabt. Bewegung ging gar nicht. Das war damals ein reines Medium für die Animation. Selbst als „Avatar“ rauskam, hat man all diese ersten Fehler gesehen. Die blauen Leute, die Na’vis bewegen sich elegant und wunderschön, aber die richtigen Leute, wenn die da durch den Film laufen, das ruckelt und zuckelt und ist überhaupt nicht elegant. Ich musste zuerst ganz viel lernen. Wir haben ein Jahr lang geforscht und tausend Tricks gelernt, um die Technik zu überlisten und Bewegung elegant und flüssig widerzugeben. Das hat gedauert.
Pläne?
Ich bin jetzt mitten in PINA und freue mich, dass es in die ganze Welt hineinkommt und reise jetzt noch eine Weile mit. Ich weiß noch nicht, was mein nächstes Projekt sein wird, aber ich bin sicher, dass, was immer ich mache, es wieder ein 3D Film sein wird, da bin ich jetzt so drauf abgefahren und angetörnt und habe das Gefühl, wir haben gerade erst mal an der Oberfläche gekratzt. Da ist noch soviel zu tun.
Am 8. April 2011 läuft PINA 3D in den österreichischen Kinos an.
Eine gekürzte Fassung des Interviews erschien am 5. April 2011 in Der Standard