An den Kammerspielen schickte Trajal Harrell die Figuren in der vergangenen Spielzeit – jenseits aller Rollenklischees – auf einen Laufsteg der Gefühle. Nun lässt Gärtnerplatz-Ballettchef Karl Alfred Schreiner, dessen Vertrag eben bis 2021 verlängert wurde, zwei isländische Choreografinnen auf "Romeo und Julia" los: Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir.
Ihr arbeitet in München im Team. Warum?
Erna Ómarsdóttir: Seit einigen Jahren leite ich die Iceland Dance Company in Reykjavik. Als Karl mich wegen „Romeo und Julia“ fragte, schien mir das zeitlich erst unmöglich.
Halla Ólafsdóttir: Aber wir kennen uns schon lange und wollten schon immer zusammen arbeiten. Vor drei Jahren lud Erna mich für eine Neufassung von „Giselle“ ein. Nun hat sich endlich die Gelegenheit ergeben, gemeinsam etwas auf die Bühne zu bringen.
Welche inhaltlichen Schwerpunkte werden von Euch in „Romeo und Julia“ gesetzt?
E.Ó.: Das Stück ist Teenagern gewidmet. Dabei stehen mehr die hormongesteuerten Gefühle im Vordergrund als eine bestimmte Geschichte. Von Liebe besessen zu sein, dafür zu sterben, hat etwas Diabolisches. So kam uns Exorzismus in den Sinn. Uns interessiert, den Inhalt auf andere Art und Weise anzugehen, ihn neu zu lesen. Wir wollen Empfindungen hervorrufen, statt Handlung nachzuerzählen.
H.Ó.: Das Unterdrücken von Emotionen und die Überwindung geschlechtlich konnotierter Konventionen sind weitere wichtige Aspekte. „Romeo und Julia“ handelt von Rebellion. Da gibt es zwei verfeindete aristokratische Familien. Deren Kinder aber tun das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Sie verlieben sich und stellen so eine Verbindung zwischen den feindlichen Lagern her. Damit kann man toll arbeiten!
Das klingt nach Dekonstruktion alter Rollenbilder...
E.Ó.: Die Frauen heute werden selbstbewusster, lassen sich nicht mehr alles gefallen, was wiederum die Männer verunsichert. In Zeiten der Me-too-Debatten hat uns die Frage beschäftigt, welche Relevanz ein Stück wie „Romeo und Julia“ noch hat.
H.Ó.: Und wie wir es abseits herkömmlicher Geschlechterdarstellung zeitgemäß umsetzen können. Vor allem im Ballett wird Liebe meist über die Beziehung von Mann und Frau erzählt. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, über die Situationen von heute nachzudenken.
Wie darf man sich das konkret vorstellen?
E.Ó.: Wir beginnen, indem die Tänzer den Zuschauern Schlüssel zum Verständnis des Stücks verraten. Schnell wird klar, dass nicht nach der einen Julia oder dem einen Romeo Ausschau gehalten werden muss.
H.Ó.: Wir versuchen mit den Grenzen von dem, was Tanz ist oder sein kann zu spielen – und mit Erwartungen, wie Tanz aussehen soll. Der Fokus liegt auf der Gruppe, das Stück hat eher metaphorische als narrative Dimension. Stimme, Atem und Schreie werden zu Ausdrucksmitteln in einem vielschichtigen Netzwerk paralleler Erzählstränge, in denen Klischees und Elemente aus der Populärkultur mit der Sprache des Balletts verschmelzen.
E.Ó.: Den Umgang mit roher Energie mögen wir beide – auch blutige Horroreffekte wie abgeschlagene Hände, die sich in Blumen verwandeln. Sich in Trance zu tanzen oder laut zu brüllen, kann heilende, reinigende Wirkung haben. Das Raue, Brutale und Zotige in Shakespeares Original wurde ja früh entschärft, anrüchige Passagen gestrichen und die Liebe quer durch alle Genres stark romantisiert. Dass Prokofjew ursprünglich ein Happy End komponiert hat, das der Zensur zum Opfer fiel, stellt einen Auslöser dar, die Story zur Folie für eigene Bearbeitungen zu machen.
Welche Bedeutung hat Prokofjews Musik für Euch?
E.Ó.: Sie ist so schön, dass ich Schreien will, wenn ich sie höre. Manche Passagen haben dieselbe Wirkung auf mich wie Heavy-Metal-Musik. Der Klang geht einem richtig nah.
H.Ó.: Wenn man – 20 Tänzer vor sich – täglich mit ihr arbeitet, kann sie einen aber auch verrückt machen. Normalerweise haben wir keine Vorlagen, wenn wir mit einer Kreation beginnen. Prokofjews Musik ist eine Herausforderung und gibt dem Entstehungsprozess eine besondere Note.
E.Ó.: Die ganze Geschichte steckt in der Komposition. Das wiederum ermöglicht uns zu abstrahieren und zu verfremden. Dirigent Daniel Huppert hat einige Kürzungen vorgeschlagen. Der erste Teil mit einer Unmenge von Kostümwechseln auf offener Bühne dauert jetzt 60 Minuten, der zweite eine gute halbe Stunde.
H.Ó.: Ich finde es aufregend, laute, schwere und raumgreifende Körper auf die Ballettbühne zu bringen – als Gegengewicht zur üblichen Bewegungsleichtigkeit und Perfektion.
Ist das Faible für Kontraste etwas typisch Isländisches?
E.Ó.: Islands Natur ist extrem, rau und überwältigend, die Winter dunkel, die Sommer hell. Das Land ist weit, jedoch leben verhältnismäßig wenige Menschen dort. Das kann einen erdrücken. Für mich birgt Härte oder Hässlichkeit aber auch Schönheit in sich.
H.Ó.: Mich fasziniert die Explosivität der Natur. Daraus schöpfe ich viel Kraft, obwohl ich seit 16 Jahren in Stockholm lebe.
E.Ó.: Es gehört zu Island, sich Märchen und Sagen zu erzählen. Tanztradition haben wir dagegen keine. Vielleicht gehen wir deshalb mit mehr Freiheit an neue Projekte heran.
"Romeo und Julia", Premiere am 22. November im Staatstheater am Gärtnerplatz. Weitere Vorstellungen am 25. November, 9., 18., 26. Dezember 2018 und im neuen Jahr