Die südafrikanische Choreografin Mamela Nyamza geht in ihrer Choreografie autobiografisch ihren Erfahrungen als Tänzerin nach und schafft dabei Bilder von emotionaler Tiefe. Tanz und Requisiten erzählen in dieser autobiografischen Reise eine Geschichte von Ausgrenzung, Emanzipation und kultureller Resilienz. Ein stimmiger Beitrag zum diesjährigen Programm der Wiener Festwochen.
Zehn schwarze Tänzer*innen in weißen Tüllröcken sitzen mit dem Rücken zum Publikum inmitten von blendend weißen Drahtobjekten. Sie haben die Oberteile abgelegt und die Spitzenschuhe angezogen während Saint-Saëns‘ Cello-Solo „Le Cygne“ in ständigem Loop aus den Lautsprechern klingt. Die Tänzer*innen setzen sich extrem langsam in Bewegung. Hier und dort erhebt sich ein Arm, werden die Objekte, ein Huhn, ein Stier, ein Auto, ein Baum mitgenommen, bis sich die Gruppe vom linken Rand in die Mitte der Bühne bewegt hat. Ein Bild von elegischer Traurigkeit, das erst gebrochen wird als eine Tänzerin aufsteht und wie im ikonischen Werk des klassischen Balletts „Der sterbende Schwan“ beginnt im Pas de bourrée über die Bühne zu trippeln. Bald folgen ihr andere, bis schließlich (fast alle) einstimmen, indem sie ihre Spitzenschuhe kräftig in den Boden drücken. Gleichzeitig bringen sie mit sanften, aber schnellen Hüftbewegungen ihre mit Wäscheklammern gespickten Röcke zum Wippen, die nun dem Cello-Solo einen weiteren Klang zufügen. Als sie sich umdrehen sehen wir ihre Gesichter mit clownesker Schminke: rot glitzernde Augenlieder und weiß geschminkte Lippen.
Als Schwarze Tänzerin hat sich Mamela Nyamza in der Welt des Balletts, aus der sie kommt, nie akzeptiert gefühlt. Gleichzeitig erfuhr sie die Disziplin der klassischen Schule als erniedrigend, als einen ständigen Kampf mit dem eigenen Körper, den sie erst überwand, als sie die institutionalisierte Kulturform des Tanzes verließ und nach eigenen Ausdrucksmöglichkeiten suchte.
Diesen Weg zeichnet die mittlerweile im zeitgenössischen Tanz anerkannte Choreografin in ihrem Stück „Hatched Ensemble“ nach, indem sie die Verwirrung, ihre angestammte Technik gegen eine neue Tanzsprache einzutauschen ebenso thematisiert wie eine neu gewonnene Freiheit.
Die roten Kostüme, die die Tänzer*innen zuvor an eine Wäscheleine geklammert hatten, die sie nur mühsam erreichen konnten, sind Symbol dafür, ebenso wie ein Tanz zu südafrikanischer Musik, auch dieser noch auf Spitze. Ein verschämter Blick des Ensembles ins Publikum spricht Bände über die Konfliktsituation der Choreografin. Erst als sie am Ende die Spitzenschuhe ablegen und barfuß in den Groove kommen, ist die Befreiung geglückt. Die Kleidung ist abgelegt, die Wäscheklammern sind überflüssig geworden. Nur die Schminke bleibt, vielleicht als Symbol für eine Vergangenheit, die für immer in die Biografie der Tänzer*innen eingeschrieben ist.
Das Gruppenstück ist eine Weiterentwicklung des Solos „Hatched“, das die Choreografin 2007 für sich kreiert hat. Nun hat sie es mit Schüler*innen, mit der Opernsängerin Litho Nqai und dem Multiinstrumentalisten Given „Azah“ Mphago erweitert. „Hatched Ensemble“ ist auch eine tänzerische Entsprechung der jüngeren Geschichte Südafrikas. Nach jahrzehntelanger Apartheid der schwarzen Bevölkerung hat die Regierung unter Nelson Mandela nach den ersten freien Wahlen nicht auf Rache oder Vergeltung, sondern auf Versöhnung und das Recht gesetzt. Mit einem analytischen Blick überträgt Mamela Nyamza dieses Prinzip auf die Welt des Tanzes: Das koloniale Balletterbe wird nicht verdammt, sondern mühevoll und im Lichte der eigenen Kultur überwunden. Damit passt „Hatched Ensemble“ perfekt in das von Programm von Milo Rau, der gesellschaftliche Konflikte und Bruchlinien in der Freien Republik Wiener Festwochen anhand von kritischen Auseinandersetzungen thematisiert.
„Hatched Ensemble”, 9. Juni 2024 im Volkstheater im Rahmen der Wiener Festwochen